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# taz.de -- Ein kleiner Akt des Widerstands: Liebeserklärung an das Streunen
> Flanieren ist zu bourgeois. Aber im ziellosen Herumgehen liegt die
> Gelegenheit des Zufalls. Streunen steckt voller Überraschungen.
Bild: Man soll sich eher in ein Café setzen als auf eine Parkbank
Mit einer Freundin steige ich an einem Freitagabend in die U-Bahn. Wir
setzen uns nebeneinander in eine 4-er-Insel. Ein lesbisches Pärchen setzt
sich uns gegenüber. Eine hat einen Zauberwürfel in der Hand. Ich spreche
sie darauf an. Sie dreht den Würfel schnell ein paar Mal in irgendwelche
Richtungen und – tadaa! – der Würfel ist auf jeder Seite in je einer Farbe.
Inzwischen haben sich andere um uns geschart und wollen es auch probieren.
Sie bringt den Würfel wieder durcheinander und wirft ihn mir zu. Sie sagt
mir, in welche Richtung ich drehen muss, bis es klappt. Dass ich mal
[1][den Zauberwürfel hinkriege], an dem ich als Kind oft gescheitert war,
hätte ich nicht gedacht.
Wir verabschieden uns und laufen ziellos durch die Gegend, die netter ist
als die, aus der wir kommen. Wir wollen in keine Kneipe, in kein
Restaurant, auf keine Party. Wir streunen. So machen meine Friends und ich
das oft: ziellos durch die Gegend laufen.
Es ist kein Spaziergang an einem schönen Ort mit Ziel und Ende. Flanieren
sagen vielleicht andere, aber das ist mir natürlich zu bourgeois. Streunen
gibt einer die Möglichkeit, sich einzubringen ins Geschehen, mehr als
einfach nur zu beobachten und abschätzig über andere Herumtreiber zu
lästern wie beim Flanieren. Man beobachtet das Geschehen nicht, man ist
Teil davon.
Streunen steckt voller Überraschungen. So wie das Leben sie manchmal
bereithält. Vor einem Kiosk kommen wir ins Gespräch mit dem Inhaber. Er
lädt uns auf eine Runde Spielautomat ein. Wir verlieren, aber er erzählt
uns von seinem Liebeskummer und wie hoch der Schnee liegt in Kurdistan im
Frühjahr. Er schenkt uns einen Schnaps ein, den wir draußen verschenken.
## Es riecht nach Crack
Wir laufen weiter die Straße runter. Niemand gibt uns die Richtung vor,
niemand sagt, was wir tun sollen, niemand erwartet etwas. Wir müssen nichts
konsumieren, nichts leisten. Die Rumtreiberei ist eine der letzten
antikapitalistischen Bastionen in unseren Leben. Sie wird einer nicht
leicht gemacht, denn unsere Städte sind auf Konsum ausgerichtet. Man soll
sich eher in ein Café setzen als auf eine Parkbank.
Immer wieder liest man, dass sich in Städten und Gemeinden über fehlende
Parkbänke beschwert wird. Hinlegen soll man sich auf denen schon gar nicht.
Nicht, dass Obdachlose sich breit machen! Man ist eher bereit, [2][den
öffentlichen Raum] weniger lebens- und liebenswert zu machen, als
Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Wir sind aus unserem Stadtteil
hinausgefahren, weil es bei uns viel Armut gibt. Bevor man sich in der
U-Bahn-Station auf eine Bank setzt, muss man nach Spritzen schauen. Es
riecht nach Crack. In dieser Gegend zu streunen, ist stressig. Arm sein ist
stressig. Politik für Reiche hat kein Interesse, das zu ändern. Bei Armen
ist schließlich kein Geld zu holen. Auch deswegen werde ich weiter
streunen, als Akt der Rebellion in der Leistungsgesellschaft.
20 Apr 2023
## LINKS
[1] https://cubesolve.com/wie-man-einen-zauberwurfel-rubiks-cube-lost-de/
[2] https://soztheo.de/stadtsoziologie/raum-und-un-sicherheit-staedtebauliche-k…
## AUTOREN
Amina Aziz
## TAGS
Kolumne La dolce Vita
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Spaziergang
Soziologie
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt
Gesundheitspolitik
Kolumne La dolce Vita
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