| # taz.de -- Razzien gegen „Clankriminalität“: Diskriminiert statt kriminell | |
| > Immer wieder finden in Berlin-Neukölln Razzien in migrantischen Läden | |
| > statt. Die Landesantidiskriminierungsstelle sieht Handlungsbedarf. | |
| Bild: Shisha-Bar is not a crime: Razzien gegen „Clankriminalität“ treffen … | |
| Berlin taz | Seit neun Jahren betreibt Ray H. eine Shishabar im Neuköllner | |
| Körnerkiez. Am Anfang, sagt er, hätten jeweils zwei Polizist*innen und | |
| Ordnungsamt-Mitarbeiter*innen eine Gewerbekontrolle gemacht, kein Problem. | |
| Doch dann kamen die Razzien gegen „Clankriminalität“. „Ich habe nichts | |
| gegen eine Razzia, Kontrolle muss sein. Aber nicht Jahre lang in den | |
| gleichen Läden“, sagt Ray H. „Jetzt kommen LKA, Presse, Gesundheitsamt, | |
| Polizei, Ordnungsamt – für was?“ | |
| Um auf das Problem aufmerksam zu machen, haben Ray H. und seine | |
| Kolleg*innen am Donnerstagnachmittag die Noch-Staatssekretärin für | |
| Vielfalt und Antidiskriminierung, Saraya Gomis, und die Leiterin der | |
| Landes-Ombudsstelle gegen Diskriminierung, Doris Liebscher, in die | |
| Shishabar eingeladen. Auch der Linke-Abgeordnete Niklas Schrader und Basem | |
| Said von der Initiative „Unsere Stimme zählt“ sind gekommen. | |
| Nun sitzt Ray H. da und erzählt, wie die bis zu fünf Razzien pro Jahr sein | |
| Leben verändert haben. „Leute werden schikaniert und beleidigt. Andere | |
| Leute kommen jetzt kaum noch“, sagt er aufgebracht. „Einmal ist eine Kundin | |
| kollabiert, sie hat gezittert vor Angst!“ | |
| Bereits vor gut einem Jahr haben sich 24 Neuköllner Geschäftsleute und fünf | |
| Initiativen [1][in einem offenen Brief] an Innensenatorin Iris Spranger, | |
| den Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (beide SPD) sowie weitere | |
| verantwortliche Politiker*innen und Behörden gewandt. Darin beklagen | |
| sie die häufigen, aus ihrer Sicht schikanösen und unverhältnismäßigen | |
| Kontrollen als existenzbedrohend. | |
| ## Ein Fall für die Antidiskriminierungsstelle | |
| Saraya Gomis bemüht sich, den Betroffenen Mut zu machen, und verweist sie | |
| an die Landesantidiskriminierungsstelle. „Wenn die Ombudsstelle sagt, es | |
| gibt 200 Beschwerden wegen Razzien in Shishabars, dann passiert vielleicht | |
| was.“ | |
| Mit der Presse will kaum eine*r der betroffenen Gewerbetreibenden | |
| sprechen. Zu negativ, zu einseitig war die Berichterstattung. Shishabars | |
| seien „Wohnzimmer der Clans“, heißt es von den künftigen Regierungspartei… | |
| CDU und SPD, deren Vertreter*innen sich bei den Razzien gerne auch mal | |
| vor der eingeweihten Presse präsentieren. | |
| Eingeführt wurden die „Razzien gegen die Clankriminalität“ 2017 von der | |
| damaligen Neuköllner Bezirksbürgermeisterin und heutigen SPD-Vorsitzenden | |
| Franziska Giffey. Inzwischen werden sie von ihrem Nachfolger Martin Hikel | |
| fortgesetzt und finden auch in anderen Bezirken statt. Hikel und die | |
| Polizei werten die Razzien als erfolgreich im Kampf gegen | |
| „Clankriminalität“ – ohne diese Erfolge jedoch genau belegen zu können. | |
| Die Kriminalstatistik der Polizei nennt für 2021 849 im Zusammenhang mit | |
| „Clankriminalität“ registrierte Straftaten. Das sind nicht einmal 0,2 | |
| Prozent aller in Berlin registrierten Straftaten, Verkehrsdelikte | |
| ausgenommen. In der öffentlichen Wahrnehmung sieht das jedoch ganz anders | |
| aus. | |
| ## Großer Aufwand mit wenig Nutzen | |
| Dass die mit großem Aufwand betriebenen Razzien wenig effizient sind, zeigt | |
| das polizeiliche „Lagebild Clankriminalität“. So fielen bei einem Einsatz | |
| im Juli 2021, bei dem die Polizei zusammen mit den Bezirksämtern Neukölln | |
| und Pankow, dem Finanzamt Wedding und dem Hauptzollamt Berlin insgesamt 19 | |
| Geschäfte kontrollierte sowie „Verkehrssonderkontrollen“ durchführte, | |
| insgesamt 1.074 Einsatzstunden an. Das Ergebnis des laut Polizei | |
| „erfolgreichen“ Einsatzes: 8 Strafanzeigen und 89 Ordnungswidrigkeiten, | |
| davon 38 Verkehrsordnungswidrigkeiten, 16 Verstöße gegen das | |
| Infektionsschutzgesetz und 10 Verstöße gegen die Spielverordnung. | |
| Weil die Kontrollen in sogenannten Verbundeinsätzen von mehreren Behörden | |
| durchgeführt werden, benötigt die Polizei keinen begründeten Verdacht oder | |
| Durchsuchungsbeschluss. Rechtlich ist das durchaus fragwürdig. „Die | |
| Begründungen sind immer anders“, bemängelt der Innenpolitiker Niklas | |
| Schrader. „Mal organisierte Kriminalität, mal Schwarzarbeit, mal | |
| Steuerhinterziehung, mal Coronamaßnahmen.“ Die Motivation sei, in ein | |
| bestimmtes Milieu zu gehen und das Signal zu senden: „Wir haben das Sagen.“ | |
| Für Schrader eine rassistische Praxis. | |
| Das legt auch eine [2][Studie der Berliner Hochschule] für Wirtschaft und | |
| Recht aus dem Jahr 2022 nahe: Demnach haben Polizei und Behörden meist gar | |
| keinen konkreten Verdacht gegen die betroffenen Läden. Vielmehr würden | |
| Gründe konstruiert, um in Barbershops, Spätis oder Imbissbuden Kontrollen | |
| durchzuführen, in der Hoffnung, dann etwas zu finden. | |
| Laut der Studie, die von der Senatswirtschaftsverwaltung in Auftrag gegeben | |
| wurde, sind Einsätze, bei denen gewerberechtliche Kontrollen nur das | |
| „trojanische Pferd“ für die polizeiliche Informationsgewinnung über | |
| mögliche kriminelle Aktivitäten sind, rechtsstaatlich problematisch. Die | |
| Vermischung von Gewerbe- und Strafverfolgung sei „unzulässig“: „Das | |
| Gewerberecht ist kein Türöffner für die präventive Kontrolle von | |
| Straftaten.“ Zudem würden bestimmte Gewerbe dadurch überdurchschnittlich | |
| oft kontrolliert, andere hingegen kaum oder gar nicht. | |
| ## Gewerbetreibende bangen um ihre Existenz | |
| „Die Gewerbetreibenden fühlen sich ungerecht behandelt und kriminalisiert“, | |
| sagt auch Basem Said von der deutsch-arabischen Initiative „Unsere Stimme | |
| zählt“. Das Image von Neukölln und Shishabars habe sich durch die Razzien | |
| massiv verändert. Mit fatalen Konsequenzen für die Ladenbesitzer*innen: | |
| „Durch diese Razzien rutschen sie in die soziale Hilfsbedürftigkeit, da | |
| Kunden ausbleiben.“, sagt Said. Für ihn ist klar: „Die Razzien sind | |
| politisch motiviert, nicht juristisch.“ | |
| Doris Liebscher, die Leiterin der Ombudsstelle, sieht gleich mehrere | |
| mögliche Verstöße gegen das Landesantidiskriminierungsgesetz. Da | |
| Shishabar-Betreiber*innen hauptsächlich Migrant*innen seien, | |
| seien diese Einsätze herkunftsbezogene Diskriminierung. Zumal das massive | |
| Polizeiaufgebot nicht verhältnismäßig sei und zu Stigmatisierung und | |
| Diskriminierung führe. Das Label „verdachtsunabhängig“ sei dabei ein | |
| Einfallstor für Diskriminierung. | |
| Polizei und Bezirksamt leugnen gar nicht erst, dass sich die Kontrollen | |
| immer gegen die gleichen Läden richten. Es geht ihnen um medienwirksame | |
| „Nadelstiche“, um „illegale Aktivitäten“ zu stören. Dafür, dass es s… | |
| den betroffenen Läden um „Clan-Wohnzimmer“ handeln soll, konnte die Polizei | |
| bislang jedoch keine Belege liefern. | |
| Dennoch sind die Polizist*innen teilweise mit Maschinenpistolen | |
| bewaffnet, tragen kugelsichere Westen und haben Polizeihunde dabei. Gäste | |
| werden kontrolliert, dürfen teilweise stundenlang nicht auf die Toilette. | |
| Viele Besucher*innen bleiben schließlich weg. Manche Durchsuchungen | |
| hinterlassen Sachschäden, die Geschäftsleute werden von der Nachbarschaft | |
| für Kriminelle gehalten. | |
| Dagegen wehren sich die Gewerbetreibenden. Doch es sieht nicht so aus, dass | |
| sich an der Einsatzpraxis etwas ändert: Am Freitagabend, nur einen Tag nach | |
| dem Treffen, fand in einer Bar um die Ecke wieder eine Razzia statt. Die | |
| Polizei rückte mit mehreren Mannschaftswagen an und kontrollierte Besitzer | |
| und Gäste. | |
| 16 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Darius Ossami | |
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