# taz.de -- Europas Kulturhauptstadt 2023: Erinnerung beleuchten | |
> Timişoara (auch: Temeswar) ist Europas Kulturhauptstadt 2023. In der | |
> mehrsprachigen rumänischen Stadt begann die Revolution von 1989. | |
Bild: Von oben alles bunt: Temeswar von oben im Januar 2023 | |
TIMIşOARA taz | Wer ins Zwielicht tritt, hört zunächst Schüsse. | |
Lichtstrahlen durchschneiden den verdunkelten Raum; manche gehen ins Leere, | |
andere treffen auf weiße Kleider und Hemden, die von der Decke hängen, und | |
machen gelbe Flecken. Man kann sich direkt in den Lauf der Strahlen | |
stellen, oder daneben, sodass sie einen verfehlen. Man hat die Wahl. Die | |
Menschen, die im Dezember 1989 in Timişoara gegen das Regime Ceauşescus auf | |
die Straße gingen, trafen die Schüsse der Staatsmacht wahllos und | |
willkürlich. | |
Die Lichtinstallation ist Teil des [1][Museums Memorial]. Seit 1995 | |
erinnert es an die Rumänische Revolution, die hier begann. Der Preis der | |
Proteste war hoch, allein in Timişoara kamen rund 100 Menschen ums Leben. | |
Im Nebenraum, der einer orthodoxen Kapelle nachempfunden ist, stehen ihre | |
Namen samt Alter an der Wand. Viele wurden keine 30, das jüngste Opfer | |
wurde nicht einmal 2 Jahre alt. | |
Mehr noch als ein Ort der Trauer ist es ein Ort der Scham. Draußen bröckelt | |
der Putz, drinnen sind die Treppenstufen ausgetreten. Wer sich in der Stadt | |
umhört, bekommt den Unmut über den schlechten Zustand zu hören. Das Museum | |
verhöhne die Opfer und würde ihres Gedenkens nicht gerecht, heißt es. Doch | |
als Geburtsort der Revolution präsentiert sich Timişoara auch andernorts | |
kaum. Mit dem „Memorial“ ist es wie mit der Erinnerung an die Revolution – | |
beide scheinen schlecht gealtert. | |
## Stadt unter Strom | |
Die Kulturhauptstadt Europas wirbt 2023 vor allem mit Konzerten, | |
Ausstellungen und Theateraufführungen. Vor der Oper, von dessen Balkon die | |
Menschen 1989 ihre Parolen riefen, steht ein vertikaler Garten. Im Jahr | |
2023 soll alles in neuem Glanz erstrahlen, passend zu dem offiziellen | |
Slogan: „Shine your light“ – „Lass dein Licht leuchten“. So wie es die | |
Stadt einst vor allen anderen europäischen Städten tat. Ab 1884 erhellten | |
hier erstmals elektrische Straßenlaternen die Bürgersteige. Da hatte es | |
etwas geradezu Ironisches, als im vergangenen Februar zur Eröffnungsfeier | |
der Strom ausfiel und die Gäste nur per Handytaschenlampe aus der Oper | |
herausfanden. | |
Timişoara war schon vor zwei Jahren als Kulturhauptstadt vorgesehen. Dann | |
kam die Coronapandemie und alles wurde verschoben. Was allerdings nicht | |
dazu führte, dass alles pünktlich fertig geworden wäre. Es passt so gar | |
nicht zum Selbstbild der Stadt, die sich rühmt, dass sie in der | |
Vergangenheit anderen oft voraus war. | |
## Temeswarer Talente | |
Nachdem die Habsburger das verwüstete und verwaiste Banat im 18. | |
Jahrhundert von den Osmanen zurückerobert hatten, lockten sie Kolonisten | |
an. In mehreren Wellen kamen vor allem Menschen aus dem süddeutschen | |
Sprachraum. Da der Ausdruck „Schwabe“ damals ein gängiger Begriff für alle | |
Deutschen war, hießen die Neuen bald „Banater Schwaben“. Während sie das | |
sumpfige Umland besiedelten, gingen Beamte und Offiziere aus Wien mit ihren | |
Familien in die Stadt, was ihr den Beinamen „Klein-Wien“ einbrachte. | |
Zwei Jahrhunderte lang war Temeswar – wie die Stadt auf Deutsch heißt – | |
Teil des Habsburgerreiches. Dessen Jugendstilbauten prägen sie bis heute. | |
Im Jahr 1718 entstand hier die erste Brauerei, 1869 die erste Straßenbahn | |
auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens. Neben Deutsch sprachen die Menschen | |
hier auch Jiddisch, Romani, Rumänisch, Ungarisch, Serbisch oder Bulgarisch | |
und feierten zweimal im Jahr Ostern. | |
Von den Nachkommen der Zugewanderten zogen viele hinaus in die Welt, wie | |
Ferenc Illy. Der 1892 geborene Sohn einer Banater Schwäbin und eines Ungarn | |
gründete in den Dreißigerjahren in Triest das Kaffeeunternehmen | |
„illycaffè“. Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009, und Stefan | |
Hell, Chemie-Nobelpreisträger 2014, besuchten das renommierte | |
Nikolaus-Lenau-Lyzeum. Und Johnny Weissmüller, der mehrfache | |
Schwimmolympiasieger und wohl berühmteste Tarzandarsteller der | |
Filmgeschichte, übte 1904 hier seine ersten Schreie. | |
## Banater Badener | |
„Hier hat Europa gelebt und geatmet, lange bevor es die Europäische Union | |
gab“, sagt [2][Dominic Fritz]. Mit 19 kam er aus dem Südschwarzwald | |
hierher, um in einem Kinderheim sein Freiwilliges Soziales Jahr zu | |
verbringen. Mit 40 sitzt er heute im Rathaus, als Bürgermeister. Dazwischen | |
machte er Lokalpolitik für die Grünen in Frankfurt am Main und schrieb | |
Reden für den Bundespräsidenten a. D. Horst Köhler. Als 2017 in ganz | |
Rumänien die „Antikorruptions-Proteste“ begannen, war Fritz in Timişoara | |
dabei. Damals habe er einen Kandidaten gesucht, der gegen den amtierenden | |
Bürgermeister antreten wollte, sagt er. Er fand niemanden, also stellte er | |
sich selbst zur Wahl. Das europäische Recht, das es EU-Bürgerinnen und | |
Bürgern erlaubt, an ihrem Wohnort bei Kommunal- und Europawahlen | |
anzutreten, machte es möglich. Sein Gegner versuchte zunächst, ihn zu | |
ignorieren und dann als „fremden Abenteurer“ abzutun. Ohne Erfolg. Im Jahr | |
2020 wurde Fritz mit „fast absoluter Mehrheit“ gewählt, wie er grinsend | |
erzählt. | |
Das Banat ist eine der wohlhabendsten Regionen Rumäniens, Timişoara hat | |
„fast null Arbeitslosigkeit“, sagt Fritz. Derzeit ist die Stadt im Umbruch: | |
60 Kilometer Kanalnetz werden saniert, 90 Straßen wurden aufgerissen. All | |
das werde nicht im Laufe dieses Jahres erledigt sein. Auch die übrigen | |
Baustellen nicht. Dabei geht es, wie vor 300 Jahren, ums Trockenlegen: Wie | |
die Kolonisten einst die umliegenden Sümpfe entwässerten, so will Fritz | |
heute den Pfuhl aus Filz und Betrug trockenlegen. „Ich kämpfe mit zwei | |
Händen, die mir auf dem Rücken zusammengebunden sind“, sagt er. Für die | |
Kommunalwahlen im kommenden Jahr gibt Fritz sich dennoch zuversichtlich. | |
## Verblassende Erinnerung | |
Die Tatsache, dass ein kaum bekannter Deutscher wie er Bürgermeister werden | |
konnte, gilt manchem schon als Beweis dafür, welche Bedeutung Europa hier | |
hat. Doch Timişoara ist heute vor allem eine rumänische Stadt. Von den | |
Banater Schwaben leben nur noch rund 15.000 in der Region. Die Polyfonie | |
Kakaniens erklingt nur noch selten. Oder um es mit Dan-Adrian Cărămidariu | |
zu sagen: „Das Banat ist eine Erinnerung.“ | |
Im Jahr 1989 sei die multikulturelle Prägung noch spürbar und eine Ursache | |
dafür gewesen, dass die Revolution hier ihren Anfang nahm, sagt der | |
40-jährige Journalist. „Temeswar hat es nicht geschafft, sich als Stadt der | |
Revolution zu positionieren.“ Hinzu kämen Kumpanei, Korruption und dass | |
sich die Stadt nicht weiterentwickele. Auch Fritz habe das nicht beheben | |
können. Für die Zukunft sieht Cărămidariu schwarz: „Wäre ich heute jung, | |
würde ich auswandern“. | |
Laut dem Kulturhauptstadt-Komitee, das erst im vergangenen Jahr | |
ausgetauscht worden ist, weil zuvor kaum etwas voranging, soll im Jahr 2023 | |
etwas Bleibendes entstehen. Mehr noch als Gäste aus dem Ausland anzulocken, | |
soll der Titel Kulturhauptstadt nach innen wirken: „Die Leute sollen wieder | |
an die Stadt glauben“, sagt Komiteemitglied Vlad Tăuşance. „Sie sollen | |
erkennen, dass es sich lohnt, hier zu leben und Kinder großzuziehen.“ Damit | |
die Stadt weiter leuchtet und nicht alle Erinnerung im Dunkel verschwindet. | |
11 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://whichmuseum.co.uk/museum/museum-of-the-revolution-in-timisoara-memo… | |
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/heute-in-europa/der-deutsche-buergermeister-… | |
## AUTOREN | |
Jan Wolf Mohnhaupt | |
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