# taz.de -- Kurdischer Künstlerroman im Theater: Schmerzhaft surreal | |
> Was bedeutet es, wenn Heimat für ständige Bedrohung steht? Davon | |
> vermittelt „Die Stadt der weißen Musiker“ am Theater Celle einen guten | |
> Eindruck. | |
Bild: Keine Vergebung für den Mörder: Thomas Wenzel und Alan Ciwan in „Die … | |
Hamburg taz | Noch ein hochgelobter Roman auf der Bühne. Und wieder die | |
Frage: Da die Verluste bei der Übersetzung ins dreidimensionale Spiel stets | |
gewaltig sind, was kann das Theater so einem Text hinzugewinnen – außer ein | |
paar Zuschauern? Am [1][Schlosstheater Celle] steht also „Die Stadt der | |
weißen Musiker“ von [2][Bachtyar Ali] auf den Spielplan. Weit über 400 | |
Seiten hat das Buch, die Stückfassung an Umfang gut ein Zehntel. Es geht | |
also um Konzentration auf den Handlungskern, in diesem Fall ist das die | |
Frage nach den Möglichkeiten von Sühne in der bluttriefenden Schuld, die | |
Grenze zivilisatorischen Verhaltens arg weit überschritten zu haben. | |
Verhandelt wird das mit beispielhaften Biografien von Kurden, die ja | |
verhältnismäßig stark in Celle vertreten sind, mehr als 3.000 leben in der | |
70.000-Einwohner-Stadt, so wird geschätzt. Denn auch die Zahl der Kurden in | |
Deutschland ist offiziell nicht erhoben, weil es ein Kurdistan mit | |
entsprechender Nationalität nicht gibt; das Volk ohne Land wird daher als | |
Türken, Syrer, Iraner oder Iraker in den Geflüchteten- und sonstigen | |
Statistiken geführt. | |
Wobei das Stück zur Auseinandersetzung mit und für die Celler Kurden nicht | |
optimal passt: Die meisten von ihnen sind Jesiden, im Roman geht es aber um | |
islamische Kurden im Nordirak. Überlebende der auf Vertreibung zielenden | |
Massaker des Regimes von Saddam Husseins gründeten dort nach den beiden | |
Golfkriegen (1980–1991) die Autonome Region Kurdistan, wo sich Gewalt in | |
innerkurdischen Konflikten als Bürgerkrieg fortsetzt. Dort ist Bachtyar | |
Ali, der seit 1995 in Deutschland lebt, selbst aufgewachsen. | |
Seine Erinnerungen hat er nicht schockierend authentisch als eine Art „Im | |
Osten nichts Neues“ aufge- und verarbeitet, sondern er transzendiert die | |
Gräuel von Deportation und Krieg mit herrlicher Fabulierlust, feinem Humor | |
und großer Menschlichkeit in eine hoffnungswillige, imaginative Literatur. | |
„Die Stadt der weißen Musiker“ ist ein ausschweifend, ja: orientalisches | |
Märchen, das flott und fluide zwischen Fantasie, Traum und Wirklichkeit | |
changiert und mit 1.001 erzählerischen Volten gleichermaßen komplex wie | |
leichtfüßig dem Ernst der Themen gerecht wird. | |
## Spiel zwischen realen und irrealen Welten | |
Die von Intendant Andreas Döring verantwortete Celler Inszenierung betont | |
dieses Spiel zwischen den realen und irrealen Welten mit dem Einsatz von | |
Masken, Puppen, farbstarkem Lichtdesign, geheimnisvoll raunenden Klängen | |
und fragmentierenden Black-outs. Für eventuell vorbeischauende Kurden | |
werden unvorhersehbar immer mal wieder Sentenzen in Kurmandschi gesprochen | |
oder übertitelt. Der Roman war im Original in einer anderen kurdischen | |
Sprache verfasst worden: Sorani. | |
Kriegslärm ist zu hören, der kurdische Performer Alan Ciwan übersetzt das | |
für seine Figur Dschaladat Kotr in Ganzkörperzittern. Sie hat gerade eine | |
Exekution mit Tausenden Toten überlebt und versteckt sich nun bei der | |
Prostituierten Dalia Saradschadin in einer Oase des käuflichen Sex. Aus den | |
Verwüstungen anderer Orte entstanden laut der Vorlage solche temporären | |
Bordellsiedlungen für den Tourismus marodierender Männlichkeit. Der | |
versponnene Musa Babak lockt den Protagonisten in eine andere Welt, möchte | |
ihn als Wächter anstellen für sein unterirdisch hergerichtetes | |
Geheimmuseum, das allen Werken Zuflucht bieten soll, die im Krieg ermordete | |
Künstler:innen gerade noch oder leider nicht mehr erschaffen konnten. | |
Wortschwallend kommt reichlich Begeisterung für Musik, Gemälde, Poesie, | |
Bücher zu Gehör, sie hätten das Potenzial, die Menschheit mit Schönheit zu | |
erlösen. Das Pathos dieser Schwärmerei dämpft die wohl etwas skeptischere | |
Inszenierung – und kümmert sich vor allem um den Auftritt von Samir von | |
Babylon: ein Folterer und Schlächter der irakischen Armee, aber auch | |
verantwortlich dafür, dass Dschaladat von Erschießungskommandos verschont | |
wurde. Nun sucht Samir irgendwie Buße. | |
Angehörige der kurdischen Opfer Samirs berufen Dschaladat als Richter eines | |
Tribunals ein. Sollen sie dem Massenmörder vergeben, sich mit ihm versöhnen | |
– oder ihn doch weiter hassen? Ein schmerzhaft surreales Puppenspiel. Dabei | |
kommt ein schon bekanntes Argument ins Spiel: „Nicht Rache, nur Schönheit | |
kann unsere Welt wieder ins Gleichgewicht bringen.“ Die Verhandlung aber | |
hat ein anderes Ergebnis: Todesurteil. | |
## Breitbeinig kraftmeierndes Machomonster | |
Kaum einer wird das wohl in Celle bedauern. Samir-Darsteller Dimitrij | |
Breuer trinkt gierig wie ein Tier und gibt den Bösewicht breitbeinig | |
kraftmeiernd wie auch lautstark als Machomonster, für den der geplante | |
Imagewechsel ein Machtspiel ist. Dazu verkumpelt er sich mit Dschaladat, | |
der nett-naiv in seiner Geschwätzigkeit rüberkommt. Mit Samir verfällt er | |
angesichts all der Huren schon mal in lustige Gockeltänze. | |
Die Regie setzt auf allgemein Menschliches und grundsätzlich Moralisches, | |
zaubert dabei aber weder den fidelen Geist noch die magische Atmosphäre der | |
dahinschwebenden Romanhandlung auf die Bühne, bleibt sachlich bei allen | |
emotionalen Ausbrüchen und ist etwas schwergängig, weil sie die episodische | |
Struktur des Buchs überbetont. So bleibt das Wunder der Kunst von Bachtyar | |
Ali, über eine deprimierende Realität so schön zu schreiben, dass es | |
trösten und traumatisiertes Leben vielleicht etwas leichter machen kann, | |
auf die Vorlage beschränkt. | |
Aber die Celler Uraufführung vermittelt einen Eindruck davon, was es | |
bedeutet, wenn Heimat nicht mit Wohlgefühlen belegt ist, sondern mit | |
chronischer Angst, ständiger Bedrohung, physischer Gewalt und psychischen | |
Verwüstungen, sodass Flucht geradezu lebensnotwendig erscheint. Flucht in | |
ein imaginäres Reich der Kunstutopie – oder, ganz konkret, nach Europa. | |
8 Apr 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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