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# taz.de -- Schwere Krankheit auf Social Media: Hashtag Cancer
> Auf Instagram und Youtube zeigen Menschen ihr Leben mit Krebs. Verändert
> sich dadurch unser Umgang mit schwerer Krankheit und dem Tod?
Bild: Maren Schaller erstellte nach ihrer Brustkrebs-Diagnose ein Instagram-Pro…
Bevor bei Maren Schaller Brustkrebs diagnostiziert wurde, hat sie Instagram
höchstens mal für Geschenkideen und Deko-Inspiration benutzt, sich aber
ansonsten, so gut es geht, von der Plattform ferngehalten. „Wegen dieser
ständigen Vergleiche und weil es so süchtig macht.“ Die heute 27-Jährige
hatte damals einen kleinen Account, sie folgte nur wenigen Leuten, und
wenige folgten ihr.
In den Weihnachtstagen 2021 entdeckte sie bei sich einen Knoten in der
Brust. Sie ging gleich zur Frauenärztin, die fand noch einen zweiten. Es
wurde Gewebe entnommen, und Mitte Januar stand fest: Maren Schaller hat ein
triple-negatives Mammakarzinom, eine besonders aggressive
Brustkrebs-Variante.
Drei Tage lang war sie wie gelähmt vor Angst, nur ihr Freund wusste
Bescheid. Sie brachte es nicht über sich, mit ihrer Familie zu sprechen,
fürchtete sich davor, die Eltern leiden zu sehen. Aber Maren Schaller
merkte auch, dass sie ein Ventil brauchte und vor allem Austausch mit
Menschen, die wissen, wie sich eine Krebsdiagnose anfühlt, die auch schon
mal kurz vor einer Chemotherapie standen und keine Ahnung hatten, was sie
erwartet. Also machte Schaller als Erstes ein neues Instagram-Profil auf,
[1][nannte es „@ploetzlich_brustkrebs“] und verfasste gleich mehrere
Posts, eine Art Chronologie der vergangenen Tage. Ihr direktes Umfeld
informierte sie eine Woche später.
Auf Instagram hatte Schaller das Gefühl, eine Community gefunden zu haben.
User:innen, die angaben, gerade Ähnliches durchzumachen, sendeten
Genesungswünsche, aber es meldeten sich auch Krankenschwestern, Angehörige
von Erkrankten und Menschen, die „einfach nur mal viel Kraft dalassen
wollen“. Diesen tröstenden kleinen Kreis nimmt Schaller künftig mit auf die
Autofahrt zum Krankenhaus, in Wartezimmer und Krankenbetten, zu sich nach
Hause aufs Sofa. Rasend schnell werden daraus über 30.000 Menschen, denen
sie von der ersten Chemo und der ersten Übelkeit berichtet oder davon, wie
es sich anfühlt, plötzlich eine Glatze zu haben.
## Ungeschönte Bilder und Momente der Verzweiflung
Als sich Romee Dussenbroek die Haare abrasiert, prustet sie erst los, um im
nächsten Moment schmerzvoll das Gesicht zu verzerren. Sie schluchzt laut,
die Hand mit dem Rasierapparat zittert, dann lacht sie wieder, während die
Tränen ihr über das Gesicht laufen. Sie trägt einen blauen Plastikumhang,
die beste Freundin massiert ihr schweigend die Schultern. Dussenbroek ist
blass, ihr Gesicht aufgeschwemmt. Über 230.000 Menschen haben sich diesen
Clip auf Youtube angeschaut, es ist das drittmeistgeklickte Video [2][auf
Dussenbroeks Kanal]. Besser lief nur das, in dem sie erstmals von ihrer
Krebserkrankung berichtet (712.000 Klicks), und eines, das davon handelt,
dass ihre Chemotherapie nicht anschlägt (440.000).
Bevor Dussenbroek Videos über ihre Erkrankung hochlud, teilte sie Vlogs von
Reisen oder ihrem Alltag als niederländische Studentin. Öffentlich
dokumentierte sie, wie sie Dinge von ihrer „Bucketlist“, ihrer „Wunschlis…
fürs Leben“, strich: das erste Tattoo, das erste Mal Fallschirmspringen,
das erste Mal in Neuseeland sein. Ein paar Hundert Leute schauten zu. Bis
sie Krebs bekam. Da wurden es über Nacht Hunderttausende. Anders als
Schaller nutzte Dussenbroek ihre Plattform zunächst, um möglichst alle
Freund:innen und Verwandte auf einmal über die Diagnose zu informieren.
Und weil ihr Publikum wuchs und wuchs, machte sie weiter.
Accounts wie die von Schaller und Dussenbroek gibt es einige auf sozialen
Netzwerken. Junge Frauen und Männer halten für eine große Followerschaft
die Geschichte ihrer schweren Erkrankung fest. Teils ganz ungeschönt mit
Bildern von OP-Narben und Haarbüscheln auf dem Kopfkissen, Selfie-Videos in
Momenten größter Verzweiflung. Andere nutzen die Plattformen eher als
Tagebuch, schreiben lange Captions zu neutralen Momentaufnahmen wie einem
Blumenstrauß am Krankenbett, einem Tropf. Manche nennen sich ironisch
„Cancerfluencer“, in ihren Instagram-Bios steht die Art der
Krebserkrankung, das Stadium, metastasierend oder nicht. Manche nehmen noch
kurz vor ihrem Tod letzte Videos auf, mit ausgemergelten Gesichtern,
heiseren Stimmen.
Wie hilft diesen Menschen das öffentliche Dokumentieren ihres Leids?
Verändern sie damit gar den gesellschaftlichen Umgang mit schwerer
Krankheit und Tod? Und die Abertausende, die über Wochen, Monate, Jahre
zuschauen – warum wollen sie das sehen?
## Kooperation mit einem Turbanhersteller
Romee Dussenbroek bemerkt durch die Kommentare unter ihren Videos schnell,
dass ein großer Teil der Zuschauer:innen in irgendeiner Form selbst mit
Krebs zu tun hat. Weil sie Angehörige oder Freund:innen sind,
Ärzt:innen oder Pfleger:innen. „Viele suchen nach einer Möglichkeit für
den Perspektivwechsel“, sagt Dussenbroek. „Die Mediziner:innen wollen
wissen: Wie geht der Patient zu Hause mit diesem neuen Leben um? Welche
Fragen beschäftigen ihn, die er im Krankenhaus vielleicht nicht stellt?“
Die Angehörigen hingegen fühlten sich oft hilflos im Umgang mit ihrem
kranken Familienmitglied, ringen um die richtigen Worte, haben Angst, etwas
Falsches zu sagen. Und wollen am Beispiel Romee Dussenbroeks dazulernen.
Maren Schallers Follower:innen wollten Tipps, wie sie ihren kranken
Müttern oder besten Freundinnen materiell Gutes tun können. Was soll rein
in das Care-Paket für die erste Chemo? Schaller rutschte dadurch in die
Rolle einer klassischen Influencerin: Sie bewarb Ingwershots und eine
Betäubungscreme für den Port, Kühlhandschuhe, um die Nerven an den Händen
zu beruhigen. Oder hübsche Turbans für den kahlen Kopf. Mit einem
Turbanhersteller geht sie später sogar eine Werbepartnerschaft ein. Es ist
nicht das einzige Unternehmen, das sich an sie wendet. Knackt man eine
bestimmte Marke an Klicks, kommen die Anfragen. Bei Schaller waren es unter
anderem ein Waschmittel- und ein Sportartikelhersteller. „Da war ich im
ersten Moment kurz ein bisschen euphorisch, geb ich zu“, sagt sie. Dann sei
ihr aber völlig klar gewesen, dass so eine Kooperation Schwachsinn sei.
Eine völlig entkräftete Krebspatientin, die Joggingklamotten bewirbt? „Wie
unglaubwürdig wäre das denn.“
Glaubwürdigkeit ist generell ein Thema. Romee Dussenbroek wird im Laufe
ihrer „Cancer Journey“ unter so manchem Video vorgeworfen, „clickbaity“…
sein, also mit überspitzten Titeln und Themen zu locken, die im Video so
nicht eingelöst werden. Zum Beispiel, wenn sie schreibt: „Ich fühle nichts
mehr auf der rechten Seite meines Körpers“, und man dann im Video erfährt,
dass es sich nur um eine kleine Stelle auf ihrer Brust handelt. Oder sie
erst am Ende des Videos verrät, ob Testergebnisse positiv oder negativ
ausfielen. Einen Spannungsbogen aufbauen, wie andere Influencer:innen
auch – ist das bei diesem Thema geschmacklos?
Dussenbroek findet: Im Gegenteil. Erkranke man so schwer wie sie, verliere
man Selbstbestimmtheit; ihre eigene Geschichte nach ihren eigenen Regeln zu
erzählen helfe ihr auch, Kontrolle zurückzuerlangen: „Ich sehe mich auch
als Storyteller und finde: Ich darf mein Leben so erzählen, wie ich will.“
Genau wie andere Youtuber:innen auch experimentiere sie mit
verschiedenen Thumbnails, also Titelbildern für ihre Videos.
## Menschen lieben die Sensation
Und wie geht sie damit um, dass sich die dramatischsten Bilder am besten
klicken? Dass die Klickzahlen signifikant abnahmen, seit sie krebsfrei ist
und wieder die Welt bereist? „Es ist schon manchmal komisch, dass da viele
Menschen sind, die offenbar nur wegen der Krankheit, nicht wegen mir als
Person zugeschaut haben“, sagt sie. Auf eine Art könne sie das verstehen,
Menschen liebten die Sensation und sie habe das für sich nun mal auch
genutzt.
Dass manche:r Zuschauer:in Dussenbroeks Videos und ihre Geschichte
nutzt, um die eigenen Probleme ins Verhältnis zu setzen und nicht mehr ganz
so groß zu finden, hält sie für menschlich. Sie selbst schaue sich heute
manchmal noch an, wie sie sich damals eine Glatze rasiert hat. „Das habe
ich gepackt, dann packe ich diese andere Kleinigkeit jetzt auch.“
Auch Maren Schaller ist mittlerweile krebsfrei, das Profil und die
Community sind geblieben. Auch wenn die ihr Trost und eine Aufgabe gegeben
hat: Die bedeutendsten Interaktionen hatte sie außerhalb des Internets.
Zwei Menschen traf sie, die jetzt zu ihren innigsten Freundinnen gehören –
ihre Physiotherapeutin und eine Nachbarin, die zeitgleich an Krebs
erkrankte und mit der sie immer wieder lange Spaziergänge machte. „Das
echte Leben findet immer noch woanders statt, und die Leute sehen wirklich
nur einen Bruchteil meines Tages“, sagt sie. Wenn es Instagram plötzlich
nicht mehr gäbe, wäre das okay für sie, sagt Schaller.
Trotzdem will sie den Account weiter betreiben. Sie beschäftigt sich jetzt
mehr mit den psychischen Folgen einer Krebserkrankung, denn so ein
Heilungsprozess sei lang. Sie will aufklären, Mut machen, vielleicht
Interviews mit Expert:innen machen. Am wichtigsten sei ihr dabei, dass
der Account Kranke und ihre Angehörigen abholt. „Niemand soll mehr das
Gefühl haben, alleine zu Hause leiden zu müssen.“
25 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.instagram.com/ploetzlich_brustkrebs/
[2] https://www.youtube.com/@RomeeDussenbroek
## AUTOREN
Leonie Gubela
## TAGS
Krebs
Instagram
Influencer
Medizin
Brustkrebs
Brüste
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