# taz.de -- Ukrainische Gesellschaft und der Krieg: Kämpfen als einzige Option | |
> Wie hat sich die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges | |
> verändert? Einige persönliche Gedanken aus ukrainischer Perspektive. | |
Bild: Lwiw Ende 2022: Zivilisten aus üben schießen im Rahmen der Kampagne „… | |
Als Kind beäugte ich schlafende Familienangehörige immer etwas ängstlich: | |
atmeten sie noch? Nur ein kaum wahrnehmbares Heben des Brustkorbs bei jedem | |
Atemzug trennte Leben und Tod und war damit die Grenze zwischen der Wärme | |
und Nähe eines geliebten Menschen und der Trauer und Leere, die sein Tod | |
hinterlässt. | |
Völlig entgeistert begriff ich gleich zu Beginn der russischen Invasion in | |
der Ukraine, dass das Leben nicht für alle Menschen die gleiche Bedeutung | |
hat. Als die russischen Bombardierungen ukrainischer Städte begannen, kamen | |
mir sofort die Bilder zerstörter Städte wie Grosny, in der russischen | |
Teilrepublik Tschetschenien, und Aleppo, in Syrien, in den Kopf. Ich war | |
sicher, dass uns etwas Ähnliches bevorstehe. | |
„Das Leben wird überbewertet“, sagte einer der führenden Exponenten der | |
russischen Staatspropaganda, der Moderator Wladimir Solowjow. Was geht im | |
Kopf derjenigen vor, die mit all dem angefangen haben und es auch beenden | |
könnten? Warum hat das Leben für sie keine Bedeutung, wie sind sie zu | |
solchen Menschen geworden? Vermutlich gehen sie davon aus, dass andere | |
genau so sind wie sie – grausam, berechnend und heuchlerisch. | |
Ich bin davon überzeugt, dass in Russland, so wie in jedem anderen Land, | |
gute und schlechte Menschen leben. Aber dass dort die vermutlich | |
schlechtestmöglichen Vertreter von 140 Millionen Menschen an die Spitze der | |
Macht gelangt sind, zeigt, dass die Probleme der Gesellschaft bei weitem | |
nicht auf diese Machtspitze begrenzt sind. Denn es sind hunderttausende | |
Russen, die weder das eigene noch fremdes Leben wertzuschätzen wissen und | |
zu den Waffen greifen, um Ukrainer zu töten – und sich nur beschweren, wenn | |
sie in der Armee schlecht eingekleidet und verpflegt werden. Das | |
verdeutlicht das Ausmaß dieser Probleme. | |
## Veränderte ukrainische Gesellschaft | |
Auch die Ukraine hat Jahrzehnte kommunistischer Repressionen hinter sich, | |
Zensur und Gehirnwäsche. Und wird noch lange mit diesem Erbe zu kämpfen | |
haben. Aber in den dreißig Jahren der Unabhängigkeit hat sie sich schon | |
weit von Russland entfernt. | |
Selbst für viele Ukrainer war es eine Überraschung, wie das Land auf den | |
brutalen Überfall reagiert hat. Als einige Grenzer auf der winzigen | |
Schlangeninsel sich weigerten, sich dem russischen Kriegsschiff zu ergeben, | |
oder als die Menschen in Cherson versuchten, die russischen Panzer mit | |
ihren bloßen Händen aufzuhalten, gab es keine Zweifel mehr daran, dass die | |
Ukrainer ihre Würde verteidigen würden. | |
Ich werde nie die Schlangen vor den Rekrutierungsstellen und | |
Waffengeschäften in Lwiw vergessen und die [1][Hunderte von Freiwilligen, | |
die am Bahnhof verstörten Frauen und Kindern halfen], die vor den | |
russischen Bomben und Panzern aus Charkiw, Kyjiw und Tschernihiw geflohen | |
waren. | |
Mich beeindrucken die Gelassenheit und Zuversicht vieler Menschen, die die | |
Besatzung überlebt haben oder schon seit einem Jahr an der Front ihr Leben | |
riskieren. Menschen wie Diana, die ihr Zuhause nicht verlassen wollte | |
[2][und unter Beschuss die Straßenkatze in Cherson fütterte]. Menschen wie | |
„Agat“, Offizier der 93. Brigade, der versichert, dass alles gut wird – v… | |
seiner Abreise nach Bachmut, die zur Zeit am stärksten umkämpfte | |
ukrainische Stadt im Donbass. | |
## Pro Waffenlieferungen – und warum? | |
Als Journalist möchte ich immer wieder schreiben, wie wichtig es ist, dass | |
die Ukraine schnell Waffen bekommt, Panzer und Artillerie. Damit die | |
Menschen sich verteidigen können – gegen einen Widersacher, der sich | |
jahrelang auf den Krieg vorbereitet und darauf gesetzt hat, alle anderen | |
Länder einfach einzuschüchtern. | |
Mich erschreckt [3][die naive Idee, der beste Weg, diesen Krieg zu beenden, | |
sei ein Ende der Waffenlieferungen]. Das wäre so, als wenn man einem | |
Gewaltopfer riete, „einfach den Widerstand aufzugeben“, damit alles bald | |
vorbei ist. Doch trotz schmerzhafter Verluste, trotz Erschöpfung und | |
schwerer Kämpfe, die selbst die Mutigsten das Leben kosten, sehen die | |
Ukrainer das Kämpfen als einzige Option. | |
Weil sie nicht wüssten, wie sie sonst Leben schützen und gegen einen | |
Widersacher verteidigen könnten, der unsere bloße Existenz als unabhängige | |
Nation leugnet und für den das Blut der anderen nichts als Wasser ist. | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
Dieser Text ist Teil der [5][taz Panter Beilage] zur taz-Sonderausgabe „Ein | |
Jahr Krieg in der Ukraine“ | |
25 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Rostyslav Averchuk | |
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