# taz.de -- Proteste in Lützerath: Vorteile der Bewegung | |
> In Lützerath stießen mit Polizei und Protestierenden zwei | |
> unterschiedliche soziale Gruppen aufeinander. Eine | |
> organisationssoziologische Analyse. | |
Bild: Die Demonstranten stehen wenige Meter vor dem Absperrzaun vor Lützerath | |
Die [1][Räumung Lützeraths ist vorbei]; die Diskussion über das Geschehene | |
allerdings noch lange nicht. Ein Protestmittel, welches besonders die | |
medialen Bilder prägte und in der Kritik stand, waren Steine. [2][Steine, | |
die auf das Einsatzpersonal der Polizei flogen]. Nicht nur Polizei und | |
Politiker*innen verurteilten dies scharf. Videos in den sozialen | |
Medien zeigen, dass auch Protestierende immer wieder „Keine Steine!“ | |
riefen, sobald diese in Richtung Einsatzpersonal flogen. | |
Warum versuchten auch Protestierende aktiv, dies zu unterbinden? Für die | |
Protestbewegung bedeuteten diese Steine neben ihrer moralischen | |
Fragwürdigkeit vor allem eines: die Gefahr, den eigenen Erfolg zu | |
riskieren. Proteste leben von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. | |
Aktionen, die umstrittenes Handeln von Staat und Unternehmen skandalisieren | |
und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind ihr Lebenselixier. Überraschende | |
Aktionen mit viel Masse und Wucht sind ihre Spezialität. | |
Prägen aber Bilder von Gewaltaktionen – wie hier die fliegenden Steine – | |
das Image der Proteste in den Massenmedien, besteht die Gefahr, Solidarität | |
in der Bevölkerung zu verlieren. Doch diese ist essenziell für den Erfolg | |
von Protestbewegungen. Bestenfalls müssen Proteste also die Entscheidung | |
treffen, lediglich friedlichen Widerstand zu leisten, um keine | |
Körperverletzung von Einsatzpersonal und womöglich Aktivist*innen zu | |
riskieren. | |
Und hier wird es spannend: Warum fällt diese Entscheidung der | |
Protestbewegung so schwer? Der Grund liegt nicht etwa am mangelnden Willen | |
oder der Qualität eines Protests. Er liegt in seiner Struktur. | |
Organisationen, wie sie in Lützerath in Form der Polizei auftreten, haben | |
gegenüber Protestbewegungen einen strukturellen Vorteil. Sie können | |
verpflichtende Erwartungen stellen: Wenn man bei ihnen Mitglied ist, hat | |
man sich an formale Bedingungen zu halten, denen man mit Eintritt in die | |
Organisation zustimmt: Sie beinhalten, eigenes Handeln an den Zielen der | |
Organisation und nicht an seine eigenen Überzeugungen anzupassen – selbst | |
wenn also in Lützerath Polizist*innen vor Ort waren, die sich emotional | |
mit den Protestierenden solidarisierten, musste dies privat bleiben. | |
Es durfte nicht ihre Handlungen als Einsatzkräfte beeinträchtigen. Erhalten | |
sie die Anordnung, eine Blockade zu räumen, müssen sie dieser Folge | |
leisten, egal was sie gerade darüber denken. Und mit Rückblick auf die | |
Proteste ist dies auch nicht passiert: Bislang ist kein Fall von | |
Dienstverweigerung seitens der Polizist*innen bekannt. Denn diese hätte | |
für sie dienstrechtliche Sanktionen zur Folge. | |
Bei den Protestierenden war genau das Gegenteil der Fall: Sie waren gerade | |
wegen ihrer persönlichen Meinung anwesend. Die Aktivist*innen waren | |
dabei bedeutend weniger an die Erwartungen einer überstehenden Instanz | |
gebunden. Dabei waren Ermahnungen zur Friedlichkeit von eigenen | |
Führungspersonen vermutlich prägend – wenn die Protestierenden diese jedoch | |
nicht umsetzen wollten, griff kein Sanktionsmechanismus wie bei der | |
Polizei. Die Protestierenden waren nämlich statt Organisationsmitgliedern | |
lediglich Anhänger des Protests. | |
Als solche konnten sie sich selbst Aufgaben und die Art ihres Protests | |
aussuchen – auch wenn sie sich ethisch fragwürdig verhielten, mussten sie | |
nicht mit einem Rausschmiss rechnen. Denn erstens zählte für die | |
Protestbewegung immer noch jede Person, die sich mit ihrem Körper der | |
Räumung Lützeraths entgegensetzte. Und außerdem gab es keinen | |
Sanktionshebel: Kein*e Aktivist*in konnte von der Protestbewegung | |
selbst des Geländes verwiesen werden, weil es keine legitimierte Instanz | |
gab, die dies entscheiden konnte. | |
Eine Anhängerschaft hat jedoch auch Vorteile gegenüber der Mitgliedschaft: | |
Wegen ihres leichten Einstiegs schaffen es Bewegungen gegenüber | |
Organisationen nahezu unbegrenzt, Anhänger*innen zu rekrutieren. Auch | |
wenn die Polizei NRW weiterhin Einsatzkräfte aus ganz Deutschland | |
mobilisiert hat – die Protestierenden schafften es, mehr Menschen als | |
erwartet nach Lützerath zu bringen. | |
Diese Menschen ließen sich bei der Umsetzung des Protestes zwar strategisch | |
nicht auf einen Nenner bringen. Aber es waren doch Menschen, die die | |
gleichen Werte und vor allem das gleiche Ziel verfolgten. Dass die | |
Protestierenden es deshalb schafften, trotz Polizeiketten zu dem Tagebau | |
vorzudringen, war deshalb wenig überraschend. | |
## Weitere Begegnungen mit der Polizei | |
Anhänger der Protestbewegung versus Mitglieder der Polizei – wer hat | |
gewonnen, und wie geht es weiter? Auf beiden Seiten gab es Verletzte; auch | |
Vorwürfe, Gewalt ausgeübt zu haben, treffen beide Parteien. Dennoch ist das | |
Kernziel der Polizei erreicht: Lützerath ist geräumt. Aber: Trotz | |
schlechten Wetters waren Tausende mehr zu den Protesten gekommen, als | |
allgemein erwartet wurde. [3][Und Aktivist*innen setzen nun ihren | |
Protest außerhalb von Lützerath an Kohlebaggern und Bahnschienen fort.] Es | |
wird also auch künftig weitere Aufeinandertreffen von Polizei und | |
Aktivist*innen geben. | |
Und wer ist dann im Vorteil? Die unterschiedlichen Eigenschaften von | |
Protestbewegungen und formalen Mitgliedern wie bei der Polizei werden | |
bleiben. Die Polizei wird auch weiterhin Vorteile aufbieten können, wenn es | |
um ein entschiedenes und einheitliches Auftreten geht. Aber auch die | |
Protestierenden werden ihre Stärken halten können: Schnelles und | |
eindrucksvolles Vorgehen kann für Überraschungen sorgen und die begrenzte | |
Spontanität der Polizist*innen strapazieren. | |
Nun liegt es an dem Umfang und der Art des Protests, inwieweit die | |
Aktivist*innen in der Lage sind, mithilfe von störenden, aber | |
friedlichen Aktionen weiter Aufmerksamkeit und Solidarität in der | |
Bevölkerung zu sammeln und ihre Überzeugungen in der Gesellschaft so zu | |
verankern, dass effektiver Druck auf politische Entscheidungen ausgeübt | |
werden kann. | |
Alicia Mengelkamp, 25 Jahre, hat einen Bachelor in Soziologie und | |
Politikwissenschaft. Sie studiert derzeit an der Uni Bielefeld im Master | |
Organisationssoziologie und beschäftigt sich aktuell mit der | |
Bewegungsforschung. | |
24 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alicia Mengelkamp | |
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