# taz.de -- Volkssport in Indien: Hockey’s Coming Home | |
> Nirgendwo kann eine Hockey-WM so begeistern wie in Indien. Und der | |
> Gastgeber ist auf dem Weg zurück zu alter Stärke. | |
Bild: Indische Fans sind vom Vorrundenerfolg ihres Teams gegen Spanien (2:0) re… | |
Mats Grambuschs Augen leuchten, als er die letzten Meter der Applausrunde | |
vorbei an der Haupttribüne des Kalinga-Stadions läuft. In ihnen spiegelt | |
sich Scheinwerferlicht. „Das ist komplett anders als in Deutschland“, sagt | |
der Kapitän der deutschen Hockey-Nationalmannschaft, und das Leuchten kommt | |
vielleicht auch von der Begeisterung, die er beim Anblick der Szenerie um | |
ihn herum empfindet. Auf ihn warten Unterschriftensammler, Selfiejäger, | |
Kameras und Journalisten. „Man fühlt sich hier“, so Grambusch, „wie ein | |
Star.“ | |
Der 30-Jährige ist anderes gewohnt. Daheim spielt er für Rot-Weiß Köln. | |
Mehr als 150 Fans verlieren sich zu den Spielen des deutschen Meisters | |
nicht mal, wenn Rekordsieger Uhlenhorst Mülheim vorbeischaut. Hier in der | |
Hockey-Arena in Bhubaneswar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaats | |
Odisha, waren es zum 3:0-Auftaktsieg der DHB-Auswahl gegen Japan bei der | |
Weltmeisterschaft 15.000 Zuschauer. | |
Das Stadion ist an diesem Abend der Tempel für einen [1][Sport], der nur | |
noch in Pakistan annähernd so populär ist wie in Indien. Es ist dekoriert, | |
wie man es von Fußballturnieren kennt. Überall hängen Plakate von | |
gewaltiger Größe mit dem WM-Maskottchen Olly, einer Meeresschildkröte mit | |
Hockeyschläger. Es gibt Gogo-Mädchen, die Glitterpuschel schwenken, der | |
WM-Song läuft in der Dauerschleife, die Fans zählen die Sekunden vor dem | |
Anpfiff herunter. | |
Doch [2][Indien] wäre nicht Indien, wenn es nicht noch einen draufsetzen | |
würde. Am Donnerstag war Indiens Nationalteam nach zuvor zwei Spielen am | |
zweiten WM-Standort in Rourkela im Kalinga zu Gast. Natürlich war kein | |
Platz leer. Mit Eskorte fuhren die Spieler auf das Gelände. Ihnen folgte | |
wenig später die Politikelite des Bundesstaats mit Gouverneur Naveen | |
Patnaik an der Spitze, der die Teamaufstellung abnahm wie bei einem | |
Staatsbesuch. Zuvor waren die Spieler durch ein Feuerwerksspalier | |
eingelaufen. | |
So ist das bei jedem Spiel dieser WM. Immer ausverkauft, immer ein bisschen | |
Bollywood: Raketen zünden nach jedem Treffer, Rauch steigt auf, Sirenen | |
dröhnen, und wer nach dem Spiel mit den Fans aus dem Stadion auf die Straße | |
fließt, den erwarten Tausende farbige Lampions in den Bäumen. Welche andere | |
Hockeynation wäre dazu imstande? | |
## Imagekampagne für den Bundesstaat Odisha | |
Vor allem in Odisha geht, was anderswo undenkbar wäre. Autor dieser Opulenz | |
ist Patnaik. Der 77-jährige Politiker und Autor diverser Abhandlungen zu | |
soziologischen und historischen Themen, ist seit 22 Jahren im Amt und hat | |
Hockey ins Zentrum seiner Imagekampagne für den verhältnismäßig | |
unbedeutenden Bundesstaat gerückt. | |
2018 wurde Odisha offizieller Sponsor der indischen | |
Hockeynationalmannschaft und erklärte sich bereit, innerhalb von fünf | |
Jahren geschätzte 17 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. 2021 wurde | |
der Vertrag um weitere zehn Jahre verlängert. Auch der Bau des 20.000 | |
Zuschauer fassenden, größten reinen Hockeystadions der Welt in Rourkela, | |
ist ein Ergebnis dieses Investments. Dieses Engagement hat auch den | |
internationalen Hockeyverband FIH überzeugt. Drei der vergangenen vier | |
WM-Turniere fanden in Indien statt – 2010 in Delhi, 2018 und dieses Jahr in | |
Odisha. | |
Dass Hockey in Indien so groß ist, hat etwas mit seiner besonderen | |
Vergangenheit zu tun. Den Sport hatten die englischen Kolonialherren | |
mitgebracht; schnell fanden die Inder, denen sportliche | |
Mannschaftsaktivitäten bis dahin unbekannt waren, Gefallen an dem Spiel. | |
1885 gründete sich in Kalkutta der erste indische Hockeyklub. 1908 ging die | |
erste Meisterschaft über die Bühne. | |
In Windeseile setzten sie sich auf den Hockeythron. 1928 gewannen die lange | |
Zeit von turbantragenden Sikhs dominierten „men in blue“ ohne Gegentor ihre | |
erste olympische Goldmedaille, fünf weitere in Serie folgten. Die Dominanz | |
war derart überwältigend, dass Indiens Nationalteam 25 Spiele bei Olympia | |
hintereinander gewann – dabei 178 Tore schoss und nur 15 kassierte. Erst | |
Pakistan bei den Spielen 1960 in Rom beendet das Regnum, doch keiner Nation | |
danach ist es jemals wieder gelungen, einen Mannschaftssport bei Olympia | |
derart lange zu beherrschen. | |
## Krise durch Kunstrasen | |
Der Niedergang des Hockeys auf dem Subkontinent fällt zusammen mit der | |
Einführung des Kunstrasens Ende der 1970er Jahre. Auf dem zuvor natürlichen | |
Untergrund versprangen lange Pässe, Dribbelkünste entschieden deshalb die | |
Partien, die niemand besser beherrschte als die Inder. Seitdem die Kugel | |
nicht mehr über Unebenheiten flippert, sind andere Fähigkeiten gefragt: | |
schnelles Passspiel, ausgeklügelte Matchpläne gepaart mit Athletik und | |
Ausdauer. | |
Indiens Artisten haben eine Weile gebraucht, um sich den neuen | |
Gegebenheiten anzupassen. Nachdem sie 1980 – allerdings in Abwesenheit von | |
Australien, den Niederlanden und Pakistan – noch einmal Gold bei Olympia in | |
Moskau gewannen, folgten 41 Jahre ohne nennenswerten Erfolg. Doch die | |
Wiederauferstehung ist im Gange. Bei den Spielen in Japan 2021 wurden sie | |
Dritte. Im kleinen Finale besiegten sie ausgerechnet den deutschen | |
Olympiasieger von 2008 und 2012. | |
Einer, der diese Entwicklung begleitet, wenn nicht sogar beeinflusst, ist | |
der Deutsche Moritz Fürste. Der 38-Jährige ist dreifacher Weltmeister, | |
zweifacher Olympiasieger – und eine Legende in Indien. Drei Spielzeiten war | |
er bei den Ranchi Rhinos im nordöstlichen Bundesstaat Jharkhand und eine | |
weitere Saison für die Kalinga Lancers aus Bhubaneswar aktiv. | |
Fürste wohnte zu dieser Zeit im Hotel. „Rausgehen war für uns undenkbar“, | |
erzählt er am Telefon. „Nach wenigen Metern waren wir umringt von Menschen. | |
Bei Auswärtsspielen war das nicht anders. An jedem Flughafen warteten 300 | |
Fans, und vier Kameras auf uns.“ Hockey mad India eben: Nicht nur | |
ausländische Beobachter bezeichnen so die einzigartige Hockeybegeisterung | |
zwischen Mumbai und Kolkata, die Inder tun es auch. | |
## Auferstehung mit finanzstarker Profiliga | |
Hinter der Wiederauferstehung steht die finanzstarke Hockey India League | |
(HIL), die das Engagement von ausländischen Stars wie Fürste ermöglicht | |
hat. 2013 wurde sie mit sechs Teams gegründet. Inspiriert vom Erfolg der | |
indischen [3][Cricketliga] war sie fünf Jahre lang Sehnsuchtsort für die | |
besten Spieler der Welt. Auch, weil es auf einmal Saisongehälter von bis zu | |
100.000 Euro zu verdienen gab. | |
Schon 2017 war allerdings Schluss, und der Spielbetrieb der HIL wurde | |
eingestellt. Nachdem ESPN seinen TV-Vertrag auslaufen ließ, ging ein | |
Großteil der Klubs pleite. Dass sich Hockey auf Klubebene selbst in hockey | |
mad India schwertut, hat auch etwas mit dem zweiten Sport zu tun, den die | |
Briten als Erbe hinterließen: Cricket. Zwei Jungen hantieren in einer | |
Seitengasse unweit des Stadions mit Schlägern, die an Bretter erinnern, und | |
einem faustgroßen Ball. Man ahnt schnell, wie die beiden Sportarten in der | |
Gunst der Inder stehen. „Hockey is nice“, sagt der eine, „but Cricket is | |
life“. | |
Trotzdem gibt es Überlegungen, der mächtigen Konkurrenz Paroli zu bieten | |
und die IHL wiederzubeleben, denn Hockey muss sich nicht verstecken, wie | |
man in Puri sehen kann. Einer der vier großen Wallfahrtsorte des Hinduismus | |
liegt 70 Kilometer südlich von Bhubaneswar. Mit der WM hat er eigentlich | |
nichts zu tun, hier verehren Zehntausende Pilger täglich Jagannath, eine | |
Inkarnation Vishnus, dem „Bewahrer des Universums“, und baden sich im Golf | |
von Bengalen die Schuld von der Seele. Trotzdem steht am Strand eine | |
Fanzone mit gewaltiger Leinwand und Unterhaltungsbühne. | |
Freuen dürfte eine Renaissance der Profiliga vor allem die indischen | |
Spieler. Manpreet Singh, Nationalmannschaftskapitän, Starspieler und | |
Posterboy in einem, hatte vor ein paar Jahren die Wirkung der Profiliga auf | |
seine Karriere beschrieben. „Nur ein einziger Monat in der HIL hat mich als | |
Hockeyspieler um Jahre wachsen lassen.“ | |
Moritz Fürste war davon Zeuge. „Der Wiederaufstieg des indischen Hockeys | |
ist ohne die HIL nicht denkbar“, sagt er. „Als wir ausländischen Spieler | |
hier 2013 ankamen, konnten uns die jungen indischen Mitspieler kaum in die | |
Augen schauen und mit mir sprechen. So groß war ihre Ehrfurcht.“ Die jungen | |
Spieler, streng hierarchische Strukturen gewohnt, hätten versucht, | |
besonders devot zu sein. „Wochen zusammen zu trainieren, zu spielen und ein | |
gemeinsames Ziel zu verfolgen – das hat bei diesen Spielern, die heute das | |
Gerüst der Nationalmannschaft stellen, enorm positive Spuren hinterlassen.“ | |
## Getragen von der Begeisterung | |
Zu der Persönlichkeitsentwicklung hinzu kam die Kontaktaufnahme zum | |
modernen Hockey. „Im Dribbeln waren die Inder schon immer Weltklasse“, sagt | |
Fürste. „Das wollen die Zuschauer hier auch sehen, dafür gibt es | |
Szenenapplaus. Doch was das allgemeine taktisch-strategische | |
Spielverständnis betrifft, war das hier zum Beginn der HIL oftmals | |
abenteuerlich. Doch schnell wäre das besser geworden. „Insbesondere die | |
Persönlichkeitsbildung der konkreten Mannschaft, die da jetzt gerade auf | |
dem Platz steht, hat in der HIL ihren Anfang genommen. Die Jungs waren im | |
Jahr 2013 erst 18 oder 19 Jahre alt und sind jetzt im besten Hockeyalter.“ | |
Und ihr Comeback in der Weltspitze kommt dem Nischensport insgesamt zugute. | |
Selbst eine Partie wie Japan gegen Südkorea wird vor vollbesetzten Rängen | |
ausgetragen. Und die Spieler aus Australien, den Niederlanden, Argentinien | |
oder Deutschland genießen hier Heldenstatus und eine Atmosphäre, von der | |
sie zu Hause nur träumen können. | |
Mats Grambusch bestätigt das. „Ich will uns nicht mit den Fußballern | |
vergleichen“, sagt er, „aber was die Begeisterung für den Sport betrifft, | |
sind wir hier in Indien nicht weit davon entfernt.“ | |
21 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Christian Henkel | |
Martin Henkel | |
Karl-Udo Wenholt | |
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