# taz.de -- Commonwealth-Spiele in Dehli: Die Spiele des neuen Indiens | |
> Die Commonwealth-Spiele beginnen am Sonntag in Indien. Trotz Chaos und | |
> Misswirtschaft hoffen die Bewohner von Delhi auf einen festlichen Verlauf | |
> der Spiele. | |
Bild: Indische Schülerinnen führen ein Tanz vor, um die Athleten zu begrüße… | |
DELHI taz | Wer an die Commonwealth-Spiele als Inkarnation von Indiens | |
neugewonnener Weltmachtrolle glauben will, der kann. Er muss nur dem | |
goldverzierten Staffelholz folgen, das versehen mit einem Grußwort der | |
englischen Königin seit elf Monaten von London auf dem Weg nach Delhi ist. | |
71 Länder hat es schon durchquert, so viele wie an den Spielen teilnehmen, | |
die am Sonntag beginnen. In dieser Woche aber hat das Staffelholz endlich | |
die indische Hauptstadt erreicht - und dort, wo der mit weißen Tüchern und | |
Kränzen orange Nelken behangene Lastwagen mit seinen winkenden Sportlern | |
und Politikern samt Staffelholz die Runde dreht, ist der Jubel groß. | |
Gurgaon macht da keine Ausnahme. Die Vorzeige-Vorstadt der Metropole hat an | |
einem sonnigen Nachmittag zur Begrüßung des Staffelholzes sämtliche | |
Schulklassen auf die Straße geschickt. Da steht sie nun in Reih und Glied | |
und Uniformen: Indiens aufstrebene Mittelklasse-Jugend. | |
Jede Schule trägt andere, bunte Farben: mal weiß-rosa die Mädchen, mal | |
gelb-grün die Jungs. Zehn bis zwölf Medaillen werde ihr Land erringen, sagt | |
ein Mädchen bescheiden. "Nein, wir gewinnen dreißig Medaillen", ruft ein | |
Junge laut dazwischen. In welchen Sportarten? "In Hockey, Boxen und | |
Schießen", antwortet er selbstsicher. | |
Die Commonwealth-Spiele, eine alte Tradition des britischen Kolonialreichs, | |
werden in Deutschland nicht gerade als herausragendes Sportereignis | |
betrachtet. In Indien aber diesmal schon. 2003 hatte sich das Land | |
erfolgreich um die Spiele beworben, zwei Jahre nachdem China sein Ticket | |
für die Olympischen Spiele in Peking im Jahr 2008 erhielt. | |
Indien wollte es China nachtun, sich und der Welt beweisen, dass es ein | |
großes, internationales Sportfest organisieren und damit der Welt als Bühne | |
dienen kann. So wie jetzt in Gurgaon sollte diese Bühne nach dem Geschmack | |
der indischen Regierung aussehen: begeisterte Jugend vor Wolkenkratzern und | |
blauem Himmel. | |
Glanz in der Vorstadt | |
Kein Zweifel, das Bild an diesem Tag trügt nicht. Es gibt sie wirklich: die | |
ebenso naiv wie ehrlich begeisterten indischen Schulkinder, die laut | |
aufschreien und mit kleinen Nationalflaggen wedeln, als nach stundenlangem | |
Warten der Wagen mit dem Staffelholz vorbeifährt. | |
Hinter ihnen türmen sich tatsächlich Wolkenkratzer auf, die es 2003 noch | |
nicht gab. Viele internationale Unternehmen haben in Gurgaon investiert: | |
Siemens, Dell, Samsung, American Express - ein gläsernes Firmenhochhaus | |
nach dem anderen säumt hier die Route des Staffelholzes. | |
Doch ist diese glänzende Vorstadtinszenierung derzeit ein in der | |
Öffentlichkeit eher verdrängtes Bild der Spiele. In den Medien überwiegen | |
seit Wochen die Negativ-Schlagzeilen. Sie sprechen von ausufernder | |
Korruption im Organisationskomitee der Spiele, gravierenden Baumängeln an | |
den Austragungsorten und chronisch verschleppten Zeitplänen. | |
Die junge Starreporterin eines großen hindisprachigen Fernsehsenders hat | |
deshalb schon seit vier Tagen keinen Bericht mehr abgeliefert. Denn in | |
letzter Zeit läuft alles nach Plan. "Wir können über die Spiele keine | |
positiven Geschichten mehr drehen", gesteht sie und bittet darum, ihren | |
Namen und den des Senders nicht zu nennen. | |
Seit einem Jahr ist sie Chefreporterin ihres Senders für die Spiele. Die | |
Redaktion verlange Berichte über leckende Stadiondächer, lose | |
Schwimmbad-Kacheln und neue Korruptionsvorfälle, sagt sie. Dabei hält sie | |
ihren gelben Presseausweis hoch: "Die Anfertigung jeder einzelnen | |
Akkreditierung soll 5.000 Rupien [umgerechnet 83 Euro, d. R.] gekostet | |
haben", erzählt sie. Natürlich hätten die Ausweise nicht wirklich so viel | |
gekostet. Trotzdem sagt sie: "Mal ehrlich: Das umgebaute Stadion ist | |
super!" | |
Das 1982 errichtete und jetzt komplett renovierte Nehru-Stadion liegt im | |
Herzen Delhis und ist Hauptaustragungsort der Spiele. Schon von weitem | |
erblickt man die neukonstruierte Überdachung aus weißen Dreiecks-Planen, | |
die im Rund der Arena wie die Zacken einer riesigen Krone wirken. | |
Das macht was her, denn herausragende Neubauten gibt es im Stadtzentrum | |
bisher kaum. Viele Passanten staunen: "Ich gehe hier jeden Tag vorbei und | |
habe das Stadion seit einem Jahr wachsen sehen: Ich bin stolz darauf. | |
Abends glitzert der ganze Himmel", sagt Balraj Singh, ein 19-jähriger | |
Mathematik-Student. | |
Doch gerade die Baumängel am pompösen Nehru-Stadion sorgten noch in der | |
letzten Woche für den bislang größten öffentlichen Aufschrei. Eine | |
neugebaute Fußgängerbrücke vor dem Stadion war wegen Konstruktionsfehlern | |
eingekracht und hatte zwei Dutzend Arbeiter verletzt. | |
Während der Spiele hätte der Unfall viele Todesopfer fordern können. "Die | |
Commonwealth-Spiele: Indiens Schande", titelte am nächsten Tag die Times of | |
India, die größte englischsprachige Zeitung der Welt. In den gleichen Chor | |
stimmen inzwischen auch Intellektuelle ein wie der in Indien geborene | |
Schriftsteller Salman Rushdie, der die Spiele als "große Erniedrigung" für | |
das Land bezeichnet. | |
Tatsächlich erklärten britische Delegationen die ihnen zugewiesenen | |
Apartments im Athletendorf zunächst für "unbewohnbar" und zogen in Hotels. | |
Inzwischen aber ist das Dorf für alle annehmbar hergerichtet und vor dem | |
Nehru-Stadion schuftet eine Baubrigade der Armee, um die kaputte | |
Fußgängerbrücke bis zur Eröffnung am Sonntag wiederaufzubauen. Man kann ihr | |
von einer Hochstraße bei der Arbeit zusehen. | |
Das tut nach Feierabend auch der 48-jährige Telekom-Angestellte Pratip | |
Sinha, dessen Firma ihre Büros neben dem Stadion hat. "Als Inder bewahre | |
ich bis zum Schluss die Hoffnung", sagt Sinha. Er erzählt, was jetzt viele | |
Inder im Stillen denken: dass es bei den Spielen wie auf einer indischen | |
Hochzeit zugehe. | |
Zunächst würden im Haus der gastgebenden Brautfamilie über Wochen Streit | |
und Chaos herrschen, doch sobald der Bräutigam am Tag der Hochzeit | |
eintreffe, löse sich alles in festlicher Ordnung und Wohlgefallen auf. | |
Den gleichen Vergleich zieht auch Suresh Kumar, Chef und Eigentümer der | |
Firma Permier Brands. Von der elften Etage eines Bürohochhauses in Gurgaon | |
steuert der ehemalige Trickfilmregisseur Vertrieb und Verkauf der | |
offiziellen Markenartikel der Spiele: T-Shirts, Kaffeebecher, | |
Trinkflaschen, Anstecker und 30 andere Produkte, alle mit dem Aufdruck des | |
offiziellen Tiger-Maskottchen "Shera". Kumar ist eigentlich zutiefst | |
unglücklich. | |
Dreimal hat das Organisationskomitee die Lancierung seiner Produkte | |
aufgeschoben, erst Anfang September durfte er sie auf den Markt bringen. | |
Die Folge: riesige Absatzverluste. "Die Organisatoren verstehen überhaupt | |
nichts von Merchandising", klagt Kumar. Er hat den Veranstaltern längst | |
offiziell die Verträge gekündigt. Ein weiterer Skandal der Spiele. Trotzdem | |
bleibt Kumar fürs Ganze optimistisch: "Indien wollte der Welt zeigen, dass | |
wir zu Großem fähig sind. Und wir sind fähig." | |
Kurz und klein gehauen | |
Der Unternehmer Kumar ist ein typischer Vertreter jenes erfolgreichen | |
indischen Mittelstands, der sich den Spaß an den Spielen trotz aller | |
offensichtlichen Fehler und Mängel nicht nehmen lassen will. Denn mit | |
Mängeln, Notständen und Gefahren aller Art muss dieser Mittelstand ohnehin | |
jeden Tag leben. Von Kumars Bürofenster lässt sich fast mit bloßem Auge bis | |
zu einer großen weiten Abfallhalde schauen, die bis Anfang dieser Woche | |
noch einer der größten Slums von Gurgaon war. | |
Dann kamen die Schaufelbagger in Begleitung der Polizei mit Helmen und | |
Schlagstöcken und schlugen das Slumdorf kurz und klein. Verstreut über das | |
große Gelände liegen jetzt Hosen, Stofftiere, Wandbilder, Küchengeräte. | |
3.000 Bewohner mussten fliehen, nur wenige blieben, darunter der 22-jährige | |
Mohammad Ali. | |
"Sie wollen nicht zulassen, dass weiße Leute wie du dreckige Menschen wie | |
uns sehen", erklärt sich Ali den Abriss. Viele, meist vom Westen | |
finanzierte Nichtregierungsorganisationen denken wir er und kritisieren | |
deshalb die indische Regierung. Gestern riefen sie das erste Mal in Delhi | |
zur Demonstration gegen die Spiele auf. Internationale Medien aus Europa, | |
Amerika und Australien kamen und filmten dreißig indische Demonstranten. An | |
ihnen werden die Spiele nicht scheitern. | |
Aber es gibt noch andere Gefahren: Der importierte Terror aus Pakistan oder | |
mögliche religiöse Unruhen nach einem gestrigen Gerichtsurteil in einem | |
alten Streit zwischen Hindus und Moslems. Doch es gibt im riesigen Indien | |
stets viele Einwände und Gefahren. Auch deshalb geht der Jubel um das | |
Staffelholz der Queen weiter - sicher auch am Sonntag im dann voll | |
erleuchteten Nehru-Stadion. | |
1 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
Georg Blume | |
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Indien | |
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