# taz.de -- Zaghafte Ernährungspolitik: Özdemirs Schonkost | |
> Cem Özdemir „diskriminiert Fleisch und Milch“ nur vorsichtig. Seine | |
> Ernährungspolitik muss jetzt ihren Namen verdienen, auch gegen eine | |
> starke Lobby. | |
Bild: Straffrei containern und beim Einkauf auch noch steuerfrei? Obst, Gemüse… | |
Fast geräuschlos und stets vorsichtig speist Landwirtschafts- und | |
Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) seine politischen Initiativen in die | |
Ernährungsdebatte ein. Das „Containern“, also das Zurückholen und Verwert… | |
weggeworfener Lebensmittel aus dem großen Müllhaufen des Handels, will er | |
straffrei stellen. Die Polizei solle sich doch lieber um richtige | |
Verbrecher*innen kümmern, meint der Minister. | |
Und wenig später, nachdem Spanien die Mehrwertsteuer auf alle | |
Grundnahrungsmittel gekappt hat, erneuert Özdemir die Forderung, künftig | |
Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte [1][von der Steuer zu befreien]. Der Vorstoß | |
passt perfekt zu den gestiegenen Lebensmittelpreisen und zur allgemeinen | |
Inflationsjeremiade. | |
Der zweite Teil der Botschaft fehlt allerdings: Wenn Obst, Gemüse und | |
Hülsenfrüchte billiger werden, sollten sich im Gegenzug Fleisch und | |
Milchprodukte verteuern. Im aktuellen Krisentaumel gibt es allerdings mit | |
Ausnahme der Veggie-Hardcore-Initiativen niemanden, der es wagen würde, | |
solche Preisaufschläge auch nur zu thematisieren. Billigfleisch ist gerade | |
jetzt sakrosankt, auch für die Grünen. | |
Mit seiner Container-Initiative hat der Minister dagegen kaum Widerspruch | |
zu befürchten. Es besteht Einigkeit, dass zu viele Lebensmittel weggeworfen | |
werden. [2][Lebensmittelretter, die in die Container krabbeln], mögen zwar | |
schlecht riechen, haben aber die Sympathien der Gesellschaft auf ihrer | |
Seite. Zumal der allgemeine Irrsinn, Lebensmittel mit angestoßenen | |
Verpackungen, kritischem Haltbarkeitsdatum oder kleinen optischen | |
Schönheitsfehlern zu vernichten, auch bei denen für Kopfschütteln sorgt, | |
die selbst natürlich nur makellose Ware kaufen. | |
## Taube Ohren beim Bauernverband | |
Mülltaucher werden immer wieder kriminalisiert. Diebstahl, Bandendiebstahl, | |
Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Einbruch – die Liste ist lang. | |
Versuche, die weggeworfenen Lebensmittel mithilfe der juristischen Vokabel | |
„Eigentumsaufgabe“ als „herrenlos“ zu deklarieren, sind oft vergeblich. | |
Höchste Zeit also, das Containern zu legalisieren und Kooperationen | |
zwischen Handel und Mülltauchern, wie es sie in einigen Städten schon gibt, | |
zu forcieren. | |
Die Forderung nach einer stärker pflanzenbasierten Nahrung und einer | |
Mehrwertsteuer-Absenkung für Obst und Gemüse dagegen hat reflexartig die | |
Sprechautomaten des Bauernverbands und der Ernährungsindustrie aktiviert. | |
Schon bei der Verabschiedung der Eckpunkte einer eher harmlosen und sehr | |
allgemein formulierten „neuen Ernährungsstrategie für Deutschland“ aus dem | |
Özdemir-Ministerium gifteten die üblichen Verdächtigen. | |
Der Bauernverband warnte vor einer „Diskriminierung von Fleisch und Milch“ | |
– und keiner hat gelacht. Der Koalitionspartner FDP meinte einen erhobenen | |
grünen Zeigefinger zu erkennen. Die Union polterte, die Ernährung tauge | |
nicht als „Schalthebel zum Umbau der Gesellschaft“. Özdemir selbst betont | |
immer wieder ganz brav, er wolle selbstverständlich niemandem vorschreiben, | |
was er zu essen habe. | |
Das erstaunliche Erregungsniveau, das schon hochvernünftige | |
ernährungspolitische Minimalvorstöße provozieren, lässt Zweifel aufkommen, | |
ob sich in diesem Land jemals eine Ernährungspolitik etablieren kann, die | |
diesen Namen verdient. Bisher gibt es sie nicht. Gesunde und nachhaltige | |
Ernährung wurde in Deutschland immer auf das Einkaufsverhalten des | |
Einzelnen abgewälzt. | |
## Mehr Gemüse wagen! | |
Der soll, umstellt von Werbelügen, dubiosen Qualitätssiegeln und dem | |
Chemiechinesisch im Kleingedruckten der Verpackungen, in | |
Selbstverantwortung seinen Magen füllen. Das zuständige Ressort hieß denn | |
auch lange ausschließlich Landwirtschaftsministerium und wurde mit | |
Politikern bestückt, die auf der Grünen Woche Bockwurst mit Schnaps | |
kombinierten und Herrenwitze in die Runde warfen à la „Oldenburger Butter / | |
hilft dir auf die Mutter“. | |
Als die Grünen es mit einem bescheidenen Veggieday versuchten, fiel die | |
Meute derjenigen über sie her, die den Nackensteak-Esser als Rückgrat | |
unserer Gesellschaft betrachten. Das zeigt aber bis heute Wirkung. Angst | |
essen Seele auf. Inzwischen hat zwar [3][eine selbstbewusste | |
Veggiebewegung] dafür gesorgt, dass sich die Speisekarte auch im letzten | |
bayerischen Dorfgasthaus deutlich geändert hat. | |
Doch die Ernährungslage in unserem Land ist nach wie vor verheerend: Zwei | |
von drei Männern und jedes sechste Kind sind stark übergewichtig. Die | |
Epidemie von Fastfood, Zuckerbrause und Industriefraß ist ungebrochen. | |
Immer weniger Menschen kochen selbst, Lebensmittelkompetenz und -wissen | |
verdampfen in der Mikrowelle. Es geht um Gesundheit, um Lebenschancen, um | |
12 Millionen adipöse Menschen, um Genuss und Freude am Essen, um Umwelt, | |
Klima, Tierwohl. | |
Doch im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es bei uns keinen für alle | |
Lebensmittel verbindlichen Nutri-Score (Lebensmittelampel), keine Lenkung | |
durch Steuern, kein Klima- und kein echtes Tierwohl-Label, kein gesundes | |
Gratisessen in Schulen und Kitas, keine Werbeverbote für offensichtlich | |
Ungesundes. Und Adipositas ist nach wie vor nicht als chronische Krankheit | |
anerkannt, sondern wird als individuelles Problem etikettiert. | |
## Das Veggieday-Trauma der Grünen | |
Es gäbe also viel zu tun: Die Vorschläge der Wissenschaft aus dem Beirat | |
des Ministeriums liegen seit Jahren auf dem Tisch. Die Gesellschaft ist | |
bereit für Veränderungen. Özdemir hat recht, wenn er betont, dass eine | |
breite Mehrheit hinter seiner Ernährungsstrategie stehe. Leider ist diese | |
entsprechend defensiv, in vielem noch vage und eher auf 2030 ausgerichtet | |
als auf heute und morgen. | |
Die Grünen müssen ihr Veggieday-Trauma endlich überwinden. Sie dürfen sich | |
von der Lobby aus Industrie und Bauernverband nicht länger einschüchtern | |
lassen. Die Zeiten von Bockwurst und Doppelkorn sind vorbei. Jetzt braucht | |
es Mut und Aufbruchstimmung, damit Besseres auf den Tisch kommt. | |
20 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Manfred Kriener | |
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