# taz.de -- Zum Tod von Heinrich Hannover: Ein Mann für die Gerechtigkeit | |
> Heinrich Hannover ist am vergangenen Samstag gestorben. Als linker Anwalt | |
> war er an Aufsehen erregenden Prozessen beteiligt. | |
Bild: Heinrich Hannover verteidigte auch die RAF-Aussteigerin Astrid Proll | |
Bremen taz | Die Welt ist nicht gerecht oder gar heil. Sogar in Heinrich | |
Hannovers ABC-Gedichten müssen Jan, Jon und Kakadu beim Essen zuschauen, | |
während Jannis, Jascha und Janine munter ihren Joghurt mit Rosine | |
verputzen. Und in seinen Gute-Nacht-Geschichten, die offenkundig ihren | |
Wortwitz von der konkreten Poesie und ihre Situationskomik aus den | |
Fantasien des Absurden Dramas bezogen haben, also dem, was in ihrer | |
Entstehungszeit Avantgarde war, geht es oft genug um unreflektierte Gewalt | |
und niederträchtige Habgier. | |
Am schlimmsten von allen ist vielleicht wirklich der Dieb, der Bettina den | |
Kürbis klaut. Dabei steht auf dem ihr Name, den sie gerade erst zu | |
schreiben gelernt hatte: Alle sieben Buchstaben hat sie eigenhändig und | |
mühevoll reingeritzt. Gerade weil Unrecht Gut aber nur allzu gut gedeiht, | |
wird dieses Kunstmärchen doch noch ein Happy End haben. Und selbst der | |
Bösewicht, das ist vielleicht das wichtigste, bekommt ein Stück vom Glück. | |
## Bedeutendster Rechtsanwalt der Bonner Republik | |
Der Jurist und Autor Heinrich Hannover ist am 14. Januar daheim in | |
Worpswede im Alter von 97 Jahren gestorben. Er habe „in vielen | |
spektakulären Fällen das Bild des modernen aktiven Strafverteidigers | |
mitbegründet und geprägt“, heißt es in der Pressemitteilung der von ihm | |
gegründeten Bremer Kanzlei, und das ist deutlich untertrieben: Hannover war | |
ohne Wenn und Aber der bedeutendste Rechtsanwalt der Bonner Republik. | |
Man macht das gerne anhand der Prominenz seiner Mandant*innen fest, von | |
Daniel Cohn-Bendit über den berühmten Hochstapler Gert Postel bis hin zum | |
letzten DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow und dann und wann ein linker | |
Terrorist: Astrid Proll wäre da zu nennen oder der RAF-Aussteiger | |
Peter-Jürgen Boock. | |
Aber in Wirklichkeit konnte er das nur werden, weil er ein besonderes | |
Gespür für das Gute, einen tiefen Sinn für Gerechtigkeit hatte. Besonders | |
scheint der, weil die Vorstellung von Strafe darin nur eine untergeordnete | |
Rolle spielte: Okay, er war halt vor allem Verteidiger. Aber selbst dort, | |
wo er sie aufseiten der Opfer zu verlangen hatte, wie in den 1980er-Jahren | |
als Vertreter der Nebenklage im Thälmann-Prozess, bleibt die Rachefunktion | |
geradezu unterentwickelt in der Vorstellung von Justiz, die seinen | |
geschliffenen Plädoyers zugrunde liegt. | |
## Erkenntnis von Schuld | |
Was diese energisch einforderten, war dagegen Sühne, also die Erkenntnis | |
von Schuld und die Klärung der Frage nach der Verantwortung für Taten. Auf | |
Betreiben der Tochter des Hamburger Arbeiter-Führers Ernst Thälmann hatte | |
Hannover vor dem Kölner Oberlandesgericht 1983 erzwungen, dass der | |
SS-Stabsscharführer Wolfgang Otto wenigstens wegen Beihilfe zum Mord vor | |
Gericht gestellt wurde: Nachdem der Bundesgerichtshof eine erste | |
Verurteilung kassiert hatte, wurde der Nazi-Scherge 1988 schließlich | |
freigesprochen. | |
In seinem Schlussvortrag hatte Hannover mit beißendem Sarkasmus darauf | |
hingewiesen, dass bei Nazi-Verbrechen in Deutschland „entgegen den | |
einfachsten Regeln der Logik“ zwischen der höchsten Spitze der | |
Befehls-Pyramide sowie den Henkern an der Basis „ein strafrechtliches Loch | |
gähnt, in dem es keine Kausalität und keine Schuld gibt“. Die – für die | |
Entnazifizierung verhängnisvolle – Folge: Der Mittelbau, unverzichtbar für | |
den reibungslosen Ablauf des rechten staatlichen Terrors, blieb weitgehend | |
unbehelligt. Und eben auch uneinsichtig: „Sühne setzt, wenn man sie nicht | |
mit Rache verwechseln will, Schuldeinsicht voraus“, hatte Hannover der taz | |
einmal erklärt. Sie habe bei allen NS-Verbrechern „durchweg gefehlt“. | |
## Behütetes Kind | |
Heinrich Hannover war in Anklam aufgewachsen, ein behütetes Kind | |
linientreuer und wohlhabender Eltern, der Vater Chefarzt der örtlichen | |
Klinik, die Mutter Hausfrau. Als Jugendlicher war er der NSDAP beigetreten, | |
um, so hat er es später erläutert, nicht in die SS, sondern in die richtige | |
Wehrmachts-Einheit eingezogen zu werden: „Für mich kam nur die Division | |
Hermann Göring in Frage“, also die des Reichsjägermeisters, schließlich | |
wäre er gerne Förster geworden. Ab 1943 Soldat, sei er „als Pazifist aus | |
dem Krieg heimgekehrt“, so Hannover über sich selbst. Von daher sei ihm | |
„Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung unter Menschen absolut | |
widerlich“ gewesen. | |
Das war ihm zufolge auch der Grund, weshalb es für ihn nie in Frage | |
gekommen wäre, als Verteidiger von RAF-Gründerin Ulrike Meinhoff in der | |
Hauptverhandlung zu agieren, obwohl er sie persönlich kannte und als ihr | |
Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft fungiert hatte. „Ich habe mit | |
Ulrike heftig gestritten über die Frage, ob es sinnvoll und vertretbar ist, | |
eine Änderung der Gesellschaft über individuellen Terror anzustreben“, so | |
Hannover. Er selber habe das stets „für völlig unsinnig“ gehalten. | |
Hannover war ein bekennender Linker. Neben bundesrepublikanischen | |
Auszeichnungen wie dem Fritz-Bauer- oder dem Hans-Litten-Preis hat er auch | |
die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität Ost-Berlin von 1986 mit Stolz | |
getragen. Falsch, und wahrscheinlich nicht ohne Absicht falsch, war | |
hingegen das Etikett des Terroranwalts, das Hannover oft angehängt wurde. | |
Wahr ist, dass er Nazi-Bankern wie Hermann-Joseph Abs einen Heidenschrecken | |
eingejagt hat, indem er sie – erfolglos – in den Zeugenstand zitierte, um | |
die Verstrickung des Kapitals in die NS-Verbrechen zu belegen. | |
## Versuch einer Rehabilitierung | |
Und irgendwer muss auch Angst gehabt haben vor einer Rehabilitierung des | |
Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzkys, der von einem deutschen | |
Gericht 1931 als Landesverräter verurteilt worden war: Das | |
Wiederaufnahmeverfahren scheiterte. | |
Statistisch relevanter sind seine zahllosen Mandate für in der Regel | |
mittellose Kriegsdienstverweigerer, die sich nicht in die neue Bundeswehr | |
zwingen lassen wollten, und für die Opfer eines Justizwesens, dem es auf | |
der Suche nach passenden Schuldigen egal war, ob die auch zu den Beweisen | |
passten. | |
Als wichtigsten Erfolg seiner Laufbahn hat Heinrich Hannover stets den | |
Freispruch für den irrtümlich wegen Vergewaltigung und Mord angeklagten | |
Bauarbeiter Otto Becker bezeichnet. Eine späte Gerechtigkeit, aber kein | |
wirklicher Triumph: DerTäter wurde nie gefasst. | |
Nachtrag: Anders, als in der ursprünglichen Version behauptet, wurde der | |
Täter 2011 gefunden. Er war aber bereits verstorben. Der Schlusssatz wurde | |
entsprechend geändert. | |
17 Jan 2023 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
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