# taz.de -- Berliner Literaturfestival für Jugend: Das Buch hat Zukunft | |
> Das „Steglitzer Literaturfest“ bringt Kids in Berlin Literatur näher. | |
> Unsere Reporterinnen sind selbst Schülerinnen und waren vor Ort. | |
Bild: Seit der Pandemie im Aufwärtstrend: lesende Kinder | |
Als wir die Treppen der U-Bahn-Station Rathaus Steglitz hinaufgehen, halten | |
wir gleich nach dem Gebäude Ausschau, in dem das Literaturfest stattfinden | |
soll. Die Schwartzsche Villa jedoch entspricht so gar nicht unseren | |
romantischen Bildern, die wir uns beim Wort Villa, dem Veranstaltungsort | |
des Festes, vorgestellt hatten. Der Vorplatz des Gebäudes ist aus Beton, | |
und um die Villa herum stehen mehr Gebäude als Bäume. | |
Als wir das Foyer betreten, nimmt die Skepsis ab, weil wir uns von der | |
Vorfreude der Gäste, der Mitwirkenden und der um uns herumwuselnden | |
Mitarbeiter anstecken lassen. | |
Vom Foyer führt eine Tür in das Café. Dort haben kaum mehr als 10 Personen | |
Platz, die Kuchen aus der Kuchentheke essen und Kaffee trinken. Wir treffen | |
hier die Mitgründerin des Festes, Birgit Murke. Sie erzählt, wie sie und | |
eine Freundin 2002 darüber sprachen, [1][Kindern und Jugendlichen | |
Literatur] näherzubringen, und sie ehrenamtlich von Schule zu Schule | |
gingen, um [2][Kinder mit ihrer Begeisterung] für Literatur anzustecken. | |
Schnell seien damals erste AGs entstanden – legendäre Buchclubs, anfangs | |
waren es drei, heute 300, in denen Kindern und Jugendlichen von der ersten | |
bis zur 13. Klasse gemeinsam Bücher lesen und verschiedene Projekte | |
realisieren, etwa einen Besuch der Buchmesse in Leipzig oder Treffen mit | |
berühmten Schauspieler*innen und Autor*innen. | |
15 Euro kostet die Mitgliedschaft, die Eltern der „Leseratten“ monatlich | |
dafür zahlen müssen. Am Geld sollte es aber nie scheitern, wenn die Kinder | |
unbedingt mitmachen wollen würden, versichert uns Frau Murk. | |
## Kids sollen selbst entscheiden | |
Von diesen Leseclubs hatten wir beide an unseren Schulen in | |
Berlin-Kreuzberg noch nie etwas gehört. Als wir sie fragten, woran das | |
liegt, konnte uns Frau Murke jedoch leider keine konkrete Antwort geben. | |
Die wichtigste Idee hinter dem Literaturfest ist, dass es für Kinder von | |
Kindern ist, erzählt Birgit Murke. Die Kinder und Jugendlichen [3][in den | |
Leseclubs] sollen die Autor*innen und das Buch, über das gesprochen | |
wird, selbst aussuchen. Wobei die Kinderbuchautorin Sabine Ludwig und der | |
Kinderbuchautor Zoran Drvenkar seit dem ersten Fest jedes Jahr dabei sind, | |
weil sie bei den Kindern besonders beliebt seien. | |
Der Ablauf des Festes sei mehr oder weniger immer gleich: Vor Beginn des | |
Lesungen stellt jeweils ein Kind die vorlesende/n AutorIn vor. Damit | |
verbunden ist die pädagogische Absicht, den Kindern die Angst zu nehmen, | |
auf einer Bühne zu sprechen. Anschließend geht es weiter mit der Eröffnung | |
im „großen Saal“. | |
Zur diesjährigen Eröffnung sind knapp 20 Leute gekommen, allerdings | |
hauptsächlich Erwachsene. Viele Kinder sieht man auch auf dem | |
anschließenden Fest nicht. Frau Murke betont scherzhaft am Anfang ihrer | |
Rede, dass sie es ja nicht anders kennen, und alle lachen. Offenbar kennt | |
man sich hier gut. Anschließend kommt Sabine Ludwig auf die Bühne und | |
erzählt im Gespräch mit Birgit Murke, wie sie sich kennengelernt haben. | |
Danach verlesen ehemalige Leseratten Glückwünsche von Stiftungen und einer | |
Schulleitung zum 20. Geburtstag des Literaturfestes vor. Die Ehemaligen | |
erzählen außerdem, wie sie die Zeit im Leseclub erlebt haben und wie | |
prägend sie war. Zum Schluss der Eröffnung weist Frau Murke noch auf eine | |
Besonderheit hin, auf die sie sehr stolz ist: Das erste Kind einer | |
ehemaligen Leseratte ist nun selbst Mitglied des Leseclubs. | |
## Es wird viel gelacht | |
Nach der Eröffnung stürmen die Kinder zur berühmten Tombola, einem der | |
Highlight des Festes für die Kinder. Hier können sie Lose für einen Euro | |
kaufen. Jedes Los gewinnt. Und zwar: ein Buch. Die Kinder sollen zufrieden | |
mit einem Bücherstapel nach Hause gehen und weiterhin Spaß am Lesen haben. | |
Das nächste Highlight ist die Lesung von Sabine Ludwig, zu der alle Kinder | |
wollen. Ludwig, 1954 in Berlin geboren, ist eine der bekanntesten deutschen | |
Kinderbuchautor*innen mit Titeln wie „Hilfe ich hab meine Lehrerin | |
geschrumpft“ oder „Der 7. Sonntag im August“. In diesem Jahr stellte sie | |
ihr letztes Buch aus der Reihe „Miss Braitwhistle“ vor. | |
Als sie eine Einführung in die einzelnen Charaktere der Reihe gibt, sehen | |
wir im Publikum viele zustimmend nickende Kinder, die anscheinend große | |
Fans der „Miss Braitwhistle“-Reihe sind. Beim Vorlesen hängen Erwachsene | |
und Kinder an ihren Lippen, es wird viel gelacht. | |
Sabine Ludwig, die auch Übersetzerin und Journalistin ist, erzählt uns im | |
Interview, dass sie die Nähe zu den Kindern bei den Lesungen sehr schätzt, | |
weil sie so auch viel besser mitbekommt, wie Kinder zu bestimmten Themen | |
denken und fühlen. | |
Das Thema des Schülerwettbewerbs in diesem Jahr ist „Umwelt“. Uns | |
interessiert sehr, wie der Klimawandel in der Kinder- und Jugendliteratur | |
den Kindern vermittelt wird. Sabine Ludwig erzählt, der Klimawandel rufe | |
bei den Kindern eine große Angst hervor. „Ich denke, dass diese Angst von | |
vielen Erwachsenen unterschätzt wird.“ | |
## Alles auf lustige Geschichten gepolt | |
Sie findet es nicht gut, dass in der aktuellen Kinderliteratur alles auf | |
„lustige und magische“ Geschichten gepolt ist und man die Krisen außer Acht | |
lasse. „Die Sorgen der Kinder müssen auch in Kinderbüchern ernst genommen | |
werden“, fordert sie. | |
Aber nicht auf eine dramatische oder belehrende Art, sondern auf eine | |
Weise, die den Kindern spielerisch und humorvoll zeigt, was sie als | |
einzelner kleiner Mensch tun können. Und sei es, dass man den Baum vorm | |
Haus den Sommer über mit Wasser versorge. | |
Peter von Becker, der dieses Jahr mit seinem ersten Kinderbuch beim | |
Steglitzer Literaturfest dabei ist, beantwortet unsere Frage zum Thema | |
Umwelt und Kinderliteratur ähnlich. Auch er findet, dass es nicht der | |
„pädagogischen Zeigefinger“ sein darf, mit dem das Thema Klima behandelt | |
werden sollte. | |
Sein Buch „Jonas Reise. Ein Abenteuer durch Raum und Zeit“ handelt von der | |
Fluchtgeschichte eines Kindes, das mit seiner Familie vor gewaltigen | |
Unwettern und diversen Katastrophen fliehen muss. Die Geschichte ist in | |
zwei Teile gegliedert, der erste spielt vor 3.000 Jahren und der zweite in | |
der heutigen Zeit. | |
Der Autor beschreibt, dass viele Parallelen zu den heutigen | |
„Klimaflüchtlingen“ in seinem Buch zu finden seien. Er hofft, dass die | |
Eltern durch das Vorlesen seiner Geschichte eine Möglichkeit finden, sich | |
mit den Kindern über das Thema Klimawandel und die damit einhergehenden | |
Katastrophen auszutauschen. | |
Auf die Lesung von Zoran Drvenkar beim 20. Steglitzer Literaturfest freuten | |
wir uns besonders, da es die einzige Lesung für Jugendliche war. Seine | |
Vorlesung findet im „Zimmertheater“ der Schwartzschen Villa statt. Da sein | |
Buch „Wir. Die süßen Schlampen“ erst ab 16 ist und die meisten | |
BesucherInnen des Festes noch nicht so alt waren, saßen nur etwa 10 | |
Personen im Publikum. Doch es war eine tolle Lesung. | |
## Keine Aussagen zum Thema Umwelt | |
Charmant und mit Humor erzählte Drvenkar, wie es zu seinem Buch gekommen | |
ist. Bevor er aus „Wir. Die süßen Schlampen“ vorliest, erklärte er es. D… | |
Hauptcharaktere des Buches stammen eigentlich aus seinem Buch „Du“. Darin | |
war die Mädchengruppe zwar nicht im Fokus, doch Drvenkar wollte sie nicht | |
aufgeben und widmete ihnen ein eigenes Buch. | |
Nach der Lesung haben wir uns mit ihm im Café Schwartzsche Villa getroffen. | |
Über das Thema Umwelt und Literatur wollte er mit uns aber nicht sprechen. | |
In seinen Büchern ginge es nicht um Klimawandel, außerdem habe er das | |
Gefühl, das Gleiche zu sagen wie alle anderen. Ein fairer Punkt, finden | |
wir. | |
Das Konzept des Literaturfestes hat uns überzeugt. Wie wichtig die Kinder- | |
und Jugendliteratur für den Buchmarkt ist, sieht man an den Zahlen des | |
Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. | |
Jährlich werden in Deutschland rund 6.000–8.000 Kinder- und Jugendbücher | |
veröffentlicht. 2021 sind insgesamt 7.206 Erstauflagen im Kinder- und | |
Jugendbuchbereich erschienen, das ist ein Anteil von 11,3 Prozent aller | |
Erstauflagen 2021. Doch die Tendenz sinkt. 2018 lag der Anteil bei 12,3 | |
Prozent. Kinder- und Jugendbücher sind mit einem Marktanteil von 18,8 | |
Prozent für den Buchmarkt nach der Belletristik das zweitwichtigste | |
Standbein und waren vor allem in der Coronazeit sehr gefragt. | |
Kinder- und Jugendbücher haben während der Pandemie enorm an Zuspruch | |
gewonnen. Im Vergleich zu 2019 ist der Umsatz 2021 um 9,4 Prozent | |
gestiegen. „Die Zahlen für 2022 liegen uns zurzeit noch nicht vor, es sieht | |
aber so aus, als könne das Kinder- und Jugendbuch auch in diesem Jahr an | |
die positive Umsatzentwicklung im Vergleich zur Vor-Pandemie-Zeit | |
anknüpfen“, so der Börsenverein des Deutschen Buchhandels. | |
Kindern die Literatur näherzubringen und zu sehen, mit welcher Begeisterung | |
sie in die Welt der Bücher eintauchen, ist eine große Freude und für | |
Eltern, Schriftsteller*innen und all die anderen Menschen, die was mit | |
Büchern machen, eine Erleichterung. Solange es junge Leute gibt, die sich | |
so für Bücher begeistern, hat Literatur eine Zukunft. | |
20 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Wilma Werner | |
Paula Parker | |
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