# taz.de -- Die Wahrheit: Angeschwabt und ungebrezelt | |
> Eine vorweihnachtliche Dienstreise führt ins Land des Grauens: Schwaben. | |
> Wo die Tristesse-Decke über einer vorschriftsmäßigen Kälte liegt. | |
Das Christfest wird nur richtig schön, wenn man es sich durch Leiden | |
verdient. Diesem Erzählmuster folgt jede Weihnachtsgeschichte, leider aber | |
auch die Realität: Nur deshalb musste ich einst in der Schule am 23. | |
Dezember Rotz im Sternchenmuster auf die letzte Klausur tropfen lassen. An | |
der Uni gab es immer noch ein Referat zu halten, untermalt von kollektivem | |
Adventsschniefen im Rhythmus von „Jingle Bells“. Heute hat die | |
Dezember-Dienstreise den Staffelstab im Rennen um die absurdeste | |
Vorweihnachtsaktion übernommen. | |
Diesmal ging es für eine Woche nach Schwaben, das unter einer grauen | |
Tristesse-Decke herumlag und mit seiner gemeinen Mischung aus Käsespätzle | |
und Depression nur auf uns gelauert hatte. Die dort täglich aufzusuchende | |
Anstalt war angeblich vorschriftsmäßig auf 19 Grad geheizt, doch die | |
Zieltemperatur wurde nur erreicht, wenn alle Anwesenden im Dauerlauf durch | |
den Sitzungssaal galoppierten und danach kollektiv das Thermometer | |
anhauchten. In den Laufpausen fror mein Hirn ein. | |
Meine Verschwabung durch Kälte und Grauizität wuchs täglich. Das machte mir | |
Angst, denn die Krankenhäuser waren ausgebucht. Nachts träumte ich von den | |
toten Augen von Stuttgart, falls ich überhaupt Schlaf fand, und beim | |
Frühstück gab es nicht die ersehnten Laugenbrezeln, wohl aber eine | |
Kaffeemaschine, die ihren Anspruch auf Teilhabe an der Konversation durch | |
Dampffauchen im Minutentakt geltend machte. Sie zischte mich an, wenn ich | |
an ihr vorbeiging, und war bei Weitem das Lebendigste im Saal. | |
Am dritten Morgen benachrichtigte mich dann auch noch mein Computer, dass | |
eine von mir versandte Mail vom Spamfilter zurückgeschickt worden sei. In | |
dieser Nachricht behauptete ich in schlechtem Englisch, jemand anderen beim | |
Masturbieren vor dem Bildschirm beobachtet zu haben, heuchelte Verständnis | |
für sein Problem und forderte dennoch einen Haufen Bitcoins, garniert mit | |
der höhnischen Empfehlung, es doch nicht allzu häufig vor dem Rechner zu | |
treiben. | |
Ich schämte mich, obwohl ich wusste, dass die Toten Augen die Mail verfasst | |
hatten und nicht ich, aber wen wollten sie damit quälen? Nun, die | |
Empfängeradresse gehörte erstaunlicherweise ebenfalls mir. Ein ganz neues | |
Geschäftsmodell, das ich, angeschwabt und ungebrezelt, nur nicht richtig | |
verstehen konnte, weshalb ich lieber abreiste. | |
Ja, es wurde höchste Zeit für das Weihnachtspilgern nach Alleswirdgutdorf | |
bei Christfesthausen. Bitte macht euch alle schleunigst auf den Weg. Dies | |
aber nehmet zu Zeichen: Im Zug wird ein Mensch sitzen, mit einer | |
Thermoskanne voll stinkendem Glühwein, der ein ebenfalls stark riechendes, | |
angebissenes Zwiebelmettbrötchen neben sich legt, damit er so tun kann, als | |
ob er keine Maske tragen müsse. Setzt euch genau vor ihn und atmet alles | |
tief ein. Hört die himmlische Musik der hustenden Nachbarn. Dann werdet ihr | |
Weihnachten im Herzen spüren. | |
14 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Susanne Fischer | |
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