| # taz.de -- Eine kleine Stilhilfe: Verflixt und zugenäht | |
| > Transportnaht? Nie gehört? Das ist nicht schlimm. Wichtig zu wissen ist | |
| > nur, dass sie aufgetrennt gehört, insbesondere bei Mänteln. Immer. | |
| Bild: Bitte, bitte, bitte: Lösen Sie die Transportnähte an Ihren Mänteln! | |
| Wenn die Tage kürzer und die Mäntel länger werden, fallen sie besonders | |
| auf. Beim Anstehen an der Supermarktkasse. Beim Warten auf die U-Bahn. Im | |
| Park. Überall Menschen, die ihre tacking stitches spazieren führen. | |
| Einen offiziellen deutschen Begriff scheint es für den tacking stitch nicht | |
| zu geben, manche nennen ihn „Transportnaht“. Es handelt sich um etwas sehr | |
| Praktisches: um den lockeren Kreuzstich, der bei neugekauften | |
| Oberbekleidungsstücken, etwa Sakkos und Mänteln, den hinteren Schlitz | |
| zusammenhält – als behelfsmäßige, vorübergehende Schutzvorrichtung, um das | |
| Kleidungsstück vor dem vorzeitigen Verbeulen und Verziehen zu bewahren. | |
| Die meisten dürften das Prinzip vom Hosenkauf kennen: Frisch erworben, sind | |
| die Taschen einer Hose oft lose zugenäht. Warum? Damit die Hose solange wie | |
| möglich ihre Form behält. Damit nicht irgendwer beim Anprobieren irgendwas | |
| hineinstopft und das Ding schon verkrumpelt, bevor der oder die rechtmäßige | |
| Käuferin es in Betrieb nimmt. | |
| Bleiben die Taschen zu, ist es nicht schlimm, fällt es nicht weiter auf, | |
| versaut es nicht gleich den Schnitt, den Look, die Bauart der gesamten | |
| Hose. Völlig anders ist es hingegen bei der Transportnaht. Denn ein | |
| rückseitiger Schlitz lässt den Mantel ein bisschen schwingen, sorgt für | |
| einen Anhauch von Eleganz, das gilt für H & M- genauso wie für | |
| Prada-Mäntel. Lässt man ihn hinten zugenäht, kann der Mantel sich nicht | |
| entfalten, umhüllt er seine Trägerin wie ein plumper Sack, entlarvt er | |
| seinen Träger als begriffsstutzigen und respektlosen Menschen – als eine | |
| Person, die ihr Kleidungsstück schlicht nicht versteht. [1][Modeschöpfer] | |
| und [2][Näherinnen] denken sich schließlich etwas bei ihrer Arbeit, selbst | |
| wenn sie für niedrigstpreisige Massenkonfektion tätig sind. | |
| Mit einer nicht gelösten Transportnaht am Mantelschlitz herumzulaufen ist | |
| in etwa das Gleiche, wie das Preisschild am Ärmel baumeln zu lassen. Oder | |
| mit einem Aufkleber, den ein freches Schulkind einem heimlich auf den | |
| Rücken gepappt hat, durch die Gegend zu schlendern: „Ich bin doof.“ | |
| Aber wie nun damit umgehen? Angenommen, es kommt einem ein Passant mit | |
| offenem Hosenschlitz entgegen. Oder man geht hinter einer Passantin, deren | |
| Rockrückseite im Bund ihrer Strumpfhose klemmt: Ist es da nicht eine Geste | |
| der Höflichkeit, darauf hinzuweisen? | |
| Jahrelang habe ich davor zurückgescheut, Menschen auf ihre hinten | |
| zugetackerten – also falsch getragenen – Mäntel anzusprechen. | |
| Das hat mit der Altersfrage zu tun. Und mit der Klassenfrage auch ein | |
| bisschen. In meinem Viertel, zum Beispiel, verdienen die meisten Leute | |
| wenig Geld, wahrscheinlich ungefähr so wenig wie ich als halbe | |
| taz-Redakteurin (oder noch weniger). Wenn ich hier junge Frauen sehe, die | |
| ihre Mango- oder Zara-Mäntelchen ausführen, mit zugenähten Schlitzen, | |
| verkneife ich mir den Stilhinweis. Auf keinen Fall will ich als Schnöselin | |
| erscheinen, als bourgeoise Blunzkuh, die sich für „etwas Besseres“ hält, | |
| denn ich halte mich nicht für etwas Besseres. Nur für ein bisschen | |
| erfahrener vielleicht. | |
| Einmal habe ich es doch gewagt. Am anderen Ende der Stadt. Da, wo die | |
| Eigentumswohnungen sind, die für Homedekor-Storys fotografiert werden. | |
| [3][In einem unendlich schick beleuchteten Museum], in dem gerade – kein | |
| Witz – eine Ausstellung preisgekrönter Modefotografie aus den 1960er Jahren | |
| lief. Eine Besucherin, ungefähr in meinem Alter, wandelte ein paar Meter | |
| vor mir durch die Hallen, in einem schwarzen, fast knöchellangen, teuer | |
| wirkenden Mantel. Ein avantgardistischer, ziemlich attraktiver Schnitt – | |
| eigentlich. | |
| „Entschuldigen Sie“, flüsterte ich. „Ja?“, fragte die Frau. „Sie tra… | |
| noch die Transportnaht am Mantel.“ Mit einem Finger deutete ich diskret in | |
| Richtung des verhunzten Schlitzes. Sie drehte ihren Kopf nach hinten, | |
| klopfte sich hektisch auf den Mantel, als ob da eine Fluse hing, blickte | |
| wieder zu mir und lächelte: „Danke sehr.“ – „Nein, ich meine: Ihr Mant… | |
| ist da hinten noch zugenäht“, sagte ich. Worauf sie den Saum ihres Mantels | |
| anhob, ihn musterte und dann ihren Blick auf meine mickrige Statur im | |
| nachtblauen Agentinnentrenchcoat von C & A richtete. Und schließlich, noch | |
| immer den Saum ihres edlen Teils in der Hand haltend, sagte: „Sorry, aber | |
| das ist Design“, und davonstöckelte. | |
| Als ich das Museum eine Viertelstunde später verließ und meine enttackerten | |
| Mantelschöße frei und anmutig im Großstadtwind flattern spürte, wusste ich, | |
| dass niemand in diesem Betondorf einen besseren Geschmack hat als ich, die | |
| Standardstangenwarenkonsumentin, und gönnte mir eine Bockwurst mit Senf. | |
| 4 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kullmann | |
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