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# taz.de -- Die Wahrheit: Spätfolgen des Homeoffice
> Wer ist dieser griechische Schafbauer namens Kostas? Und warum umwehen
> ihn diese elegischen Panflötenklänge? Ein Schäferalbtraum vor dem
> Spiegel.
Bild: Umzingelt von gurkigen Scheiben: Tomate
Die kältesten Tage in diesen dunklen Zeiten sind nicht die im tiefen
Winter, wenn die Temperaturen weit unter die Null-Grad-Grenze fallen,
sondern jene zu Beginn der frostigen Jahreszeit, wenn die Feuchtigkeit des
Novembers die Kriechkälte des Dezembers umnebelt. Unbeweglich frierend
verharrt man vor der Buchstabenmaschine, und es bewegen sich nur noch die
klammen Finger auf der kühlen Tastatur. Da hilft nur eins: Schicht um
Schicht zur Mümmelzwiebel werden.
Neuerdings trage ich über Shirt und Hemd eine beige Vlies-Jacke und eine
schwarze Wollweste. Ich, der ich mich immer um eine zweckmäßige
großstädtische Büroeleganz bemüht habe, sehe aus wie … ja, wie eigentlich?
Ich trete vor den Spiegel und erschrecke. Offensichtlich wohnt mittlerweile
bei mir ein griechischer Schafbauer. Vermutlich heißt er Kostas.
Ich spreche den peleponnesischen Landmann an: „Kalí méra. Sie sind also
Kostas?“ Er schüttelt den Kopf. „Nix Kostas. Ich sein du. Du sein ich.“ …
ist mir zu viel griechische Philosophie am Morgen, aber in mir hat sich
längst das Hellenische ausgebreitet. Habe ich nicht plötzlich Hunger auf
Feta, Jieper auf Ouzo? Und wo ist meine Panflöte? Schon höre ich aus der
Ferne die selbstverständlich elegischen Flötenklänge, die eine alte schwer
verreimte Weise umwehen: „Mykonos war tausend Meilen weit, und ich tat mir
beinahe selber leid.“
Es fehlt nur noch die topfartige Lammfellkappe und der aus einem Pinienast
selbst zurechtgeschnitzte knorrige Hirtenstab, um die Herde an- und
zusammenzutreiben. Und ein umgeschnallter Lederbeutel, in dem natürlich
kein Wasser, sondern Wein ist, den ich mir aus einem halben Meter
Entfernung in den Mund spritze, um die von der glühenden Sonne und der
harten Brotrinde knochentrocken gewordene Kehle anzufeuchten.
„Jámas!“, stammele ich und erwache aus meinem schrecklichen Schäferalbtra…
vor dem Spiegel. Kafka hatte seinen Käfer, ich habe meinen Schäfer.
Wein trinke ich selten, in Griechenland bin ich noch nie gewesen, Hellas
ist mir zutiefst fremd. Offenbar aber ist es dringend nötig, das Homeoffice
zu verlassen, das in zwei langen Coronajahren zur Reise nach Kythera
geworden ist: eine barocke Schäferidylle, ein Reich der wahren Liebe, fern
aller Konflikte. Doch wie jede Idylle ist auch sie gefährdet und nicht
länger beständig, denn irgendwann wird sie wie alle Paradiese zu einem
Albtraum, der schließlich ein Ende finden muss.
Endlich werde ich wieder mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen unter
munteren Kollegen in der legendären Zentrale der Macht, auch Büro genannt,
dem frischen Tagwerk nachgehen. Und kann nach der Ära des Homeoffice alles
hinter mir lassen: die Panflöte, den Holzstab, den Feta und die
bauernhässlichen Vliese und Westen. Nichts gibt es, das ich aus dieser
dunklen Zeit würde wirklich behalten wollen – bis vielleicht auf eine
Sache: den wärmenden Ouzo. Damit könnte man auch den Kollegen gut
heimleuchten.
7 Dec 2022
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Homeoffice
Griechenland
Arbeit
Gurken
Winter
Hass
Kolumne Die Wahrheit
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