Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Alltag im befreiten Cherson: „Am Freiheitsplatz weinten alle“
> Nach ihrem Abzug hat die russische Armee in Cherson viel zerstört. Doch
> in der Stadt dominiert noch immer eine gelöste Stimmung, berichtet ein
> Anwohner.
Bild: Ladestation: An solchen Zeilen können die Anwohner*innen Chersons ihre H…
„Am Morgen des 11. November war ich auf dem Dniprovskyi-Markt, als ich
plötzlich hörte, wie eine Verkäuferin zur anderen sagte: Na, gehen wir
jetzt unsere Leute begrüßen? Im Wohngebiet Tawritscheski haben sie schon
unsere Fahne gehisst!“, schildert Dementij Belyj, Leiter einer ukrainischen
Wahlbeobachtungsorganisation in Cherson, den [1][Tag der Befreiung] seiner
Stadt durch die ukrainische Armee.
„Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da schrien schon alle Leute um
uns Hurra! Mit Tränen in den Augen stieg ich in einen Bus, um mich mit
eigenen Augen davon zu überzeugen, dass in unserer Stadt wirklich unsere
Flagge hängt. Schon im Bus sprachen alle nur von der Befreiung“, fährt
Belyj, ein Mitfünfziger mit grauem Vollbart, fort.
„Durch das Busfenster sahen wir eine ganze Kolonne von Militärfahrzeugen
mit ukrainischen Flaggen. Es war das pure Glück. Am Freiheitsplatz stiegen
wir aus. Dort weinten alle: Männer, Frauen und Kinder. Die Menschen standen
schon Schlange, um unsere Soldaten zu umarmen. Um sie einfach in den Arm zu
nehmen. Da begriff ich, dass ich jetzt wieder frei atmen kann in meiner
Heimatstadt“, so Belyj.
Bereits am 11. November wurde Cherson vollständig von der russischen
Besatzung befreit, doch noch immer spürt man in der Stadt Euphorie und
feierliche Stimmung. Am zentralen Freiheitsplatz versammeln sich jeden Tag
Menschen, die hier Freunde treffen und Selfies vor ukrainischen Symbolen
machen.
## Humanitäre Hilfe am Freiheitsplatz
Als die russischen Besatzer noch in der Stadt waren, konnten die Chersoner
von solcher Freiheit nur träumen: Für den Besitz von Dingen mit
ukrainischen Symbolen, ja schon für Handynachrichten auf Ukrainisch konnten
die Besatzer Menschen in Gefängnis stecken oder sogar töten. „Während der
Besatzungszeit habe ich gelernt, auf der Straße den Blick nicht mehr zu
heben. Jetzt lerne ich, wieder zu gehen wie früher, ohne Angst davor, nach
rechts oder links zu schauen“, bekennt Dementij Bely.
Viele Chersoner kommen aber auch noch aus ganz praktischen Erwägungen auf
den Freiheitsplatz, denn hier wird humanitäre Hilfe verteilt. In eigens
dafür errichteten Zelten können sie ihre Handys kostenlos aufladen, es gibt
Zugang zum mobilen Internet, so dass man Angehörige kontaktieren kann.Hier
wird man auch mit den neuesten Nachrichten versorgt.
Ansammlungen von Menschen, die ihre Smartphones aufladen, kann man in
verschiedenen Teilen der Stadt sehen. In einigen Cafés und Geschäften hat
man Generatoren aufgestellt, die von allen genutzt werden können.
Doch die Festtagsstimmung kann nicht über die katastrophale humanitäre
Situation in der Stadt hinwegtäuschen. Kurz vor ihrem Rückzug aus den
Teilen des Gebietes Cherson rechts vom Dnipro haben die [2][russischen
Besatzer Stromleitungen und Umspannwerke gesprengt].
## Kostbare Exponate gestohlen
Am 6. November wurde daher die Wasser- und Stromversorgung in der Stadt
vollständig gekappt. Die, die keinen Gasanschluss haben, müssen Wasser und
Essen auf offenen Feuern auf der Straße kochen. Auch Mobilfunk- und
Internetverbindungen sind in Cherson noch unterbrochen.
Aus dem Museum für Landeskunde und dem Oleksij-Schowkunenko-Kunstmuseum
haben die russischen Soldaten vor ihrem Abzug kostbare Exponate gestohlen
und abtransportiert. Auch wertvolle Dokumente aus dem Gebietsarchiv und dem
Archiv der regionalen Hauptabteilung für die Registrierung von
Personenstandsurkunden haben sie mitgenommen.
„Jetzt werde ich nie mehr erfahren, wie meine georgischen Vorfahren, die in
den vergangenen Jahrhunderten in Cherson lebten, mit Nachnamen hießen. Alle
Dokumente darüber haben die Russen mitgenommen. Alle Archivbestände haben
sie vor meinen Augen abtransportiert, in Fahrzeugen des Ministeriums für
Katastrophenschutz“, sagt Inna Mikulyzka aus Cherson.
Vor ihrem Abzug haben die Besatzer auch viele Objekte in der Stadt vermint
und den wichtigsten Fernsehmast in der Stadt gesprengt. Noch kurz bevor sie
endgültig weg waren, haben sie den Flusshafen beschossen. Und nach ihrem
Rückzug zerstörten sie noch ein Kesselhaus und ein Trolleybus-Depot
vollständig.
## Zugverkehr wiederhergestellt
Obwohl es in der Stadt weder Strom, Wasser noch Heizung gibt, lebt Cherson
weiter. Jeden Tag verkehren Minibusse auf den Straßen, der reguläre
Busverkehr zwischen der Stadt und den Vororten wurde wieder aufgenommen.
„Nachdem die Russen alle Brücken gesprengt hatten, musste ich zur Arbeit
nach Cherson mit einem Boot über den Fluss Inhulez. Auf der anderen Seite
des Flusses konnte ich dann zur Weiterfahrt in einen Bus steigen. Aber
jetzt haben sie eine Pontonbrücke über dem Fluss errichtet und nun gibt es
wieder eine direkte Busverbindung“, erzählt die Krankenschwester Hanna am
Chersoner Busbahnhof.
Der [3][Zugverkehr] in die Hauptstadt wurde bereits wieder aufgenommen, am
18. November kam der erste Zug aus Kyjiw in Cherson an. Seit dem 20.
November verkehren Busse zwischen Cherson und Odessa. Auch die Straße
zwischen Cherson und dem benachbarten Mykolajiw die während der Kämpfe
zerstört und an einigen Stellen von russischen Truppen gesprengt wurde,
wird inzwischen wieder instand gesetzt.
Die Schulen sind noch nicht geöffnet, aber die Krankenhäuser haben ihren
Betrieb wieder aufgenommen. Auch die erste Tankstelle in Cherson ist wieder
geöffnet. Vor ihr bilden sich lange Schlangen: Benzin ist jetzt die
wichtigste „Währung“ der befreiten Stadt und gleichzeitig das knappste Gut,
neben Powerbanks und Generatoren.
## Der Supermarkt hat wieder auf
Der Mobiltelefondienst wird allmählich wiederhergestellt, und in der Nähe
des Bahnhofs gibt es wieder Strom- und Wasserversorgung. In diesem Teil der
Stadt öffnete am 20. November auch der erste Supermarkt der beliebten
lokalen Kette ATB wieder seine Pforten.
„Jeden Tag sehen wir, wie sich die Dinge zum Besseren verändern. Trotz des
ständigen Beschusses, trotz der Zerstörung unserer Infrastruktur haben wir
überlebt. Und alles andere bauen wir wieder auf.“ Davon ist Dementij Belyj
aus Cherson überzeugt.
Aus dem Russischen: [4][Gaby Coldewey]
21 Nov 2022
## LINKS
[1] /Russischer-Abzug-aus-Cherson/!5894660
[2] /Kritische-Infrastruktur-in-der-Ukraine/!5891528
[3] /Eisenbahn-in-der-Ukraine/!5883849
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Oleh Baturin
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Stromausfall
Infrastruktur
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Energiekrise
Ukraine-Konflikt
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Südukraine unter Beschuss: Cherson, leidgeprüft und stolz
Zweieinhalb Monate nach der Befreiung Chersons haben die Ukrainer:innen
endlich ihre Angst verloren. Doch der russische Beschuss geht weiter.
Kämpfe in der Ostukraine: Blutige Schlacht um Bachmut
Seit Monaten stecken die ukrainische Armee und russische Soldaten in einem
brutalen Stellungskampf. Beobachter sehen Parallelen zu Verdun 1916.
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Botschafter fordert mehr Waffen
Der neue ukrainische Botschafter hofft auf deutsche Generatoren und mehr
Waffen. Die Ukraine meldet kleine Fortschritte bei der Stromversorgung in
Cherson.
Cherson nach der russischen Besatzung: „Hauptsache, keine Russen mehr“
Die russische Armee ist nicht mehr, die Menschen atmen vorsichtig auf. So
wie Diana, die sich wieder traut, Ukrainisch auf der Straße zu sprechen.
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: AKWs vom Netz genommen
Infolge der russischen Luftangriffe wurden mehrere Kernkraftwerke in der
Ukraine vom Netz genommen. In Kiew ist die Wasserversorgung ausgefallen.
Russischer Abzug aus Cherson: Das Narrativ vom Rückzug
Die „historische Mission der Befreiung“ umsetzen: Russische Offizielle
beschreiben die jüngste Niederlage der russischen Armee als Zeitgewinn.
Krieg in der Ukraine: Die Chance ergreifen
Der russische Truppenabzug aus Cherson könnte der Anfang vom Ende sein.
Jetzt heißt es, Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau voranzutreiben.
Russischer Abzug aus Cherson: Freudentränen und Freiheitsgefühle
In Cherson im Süden der Ukraine herrscht eine ausgelassene Stimmung. Die
Rückeroberung stellt einen Wendepunkt im Krieg dar.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.