# taz.de -- Tragikomödie „Bardo“ im Kino: Der Film bin ich | |
> „Bardo“, der neue Film des mexikanischen Regisseurs und Drehbuchautors | |
> Alejandro González Iñárritu, erweist sich als bildgewaltige | |
> Selbstbespiegelung. | |
Bild: Im Mittelpunkt: Silverio (Daniel Giménez Cacho) in „Bardo“ | |
Und – hast Du bekommen, was Du haben wolltest von diesem Leben, trotz | |
allem?“, wird ein unbekanntes Gegenüber in Raymond Carvers Gedicht „Spätes | |
Fragment“ befragt. Es bejaht und erwidert auf die Rückfrage, was es denn | |
gewollt habe: „Sagen können, dass ich geliebt werde, mich geliebt fühlen | |
auf dieser Erde.“ | |
Diese Zeilen eröffnen den [1][Film „Birdman“ (2014)], in dem der gealterte | |
Schauspieler Riggan Thomson (Michael Keaton) nach seinem lange vergangenen | |
Erfolg als Star seelenloser Blockbuster versucht, am Broadway ein Stück zu | |
inszenieren, um etwas von Bedeutung zu schaffen, wie er sagt, und sich so | |
als Künstler zu beweisen. | |
Der mexikanische Regisseur und Drehbuchautor Alejandro González Iñárritu | |
übte mit dem schwarzhumorigen Drama scharfe Kritik am gegenwärtigen Zustand | |
der Filmindustrie, die sich vorrangig auf lukrative Superhelden-Streifen | |
konzentriert – ebenso an einem Publikum, das nur das schnöde Spektakel im | |
Kino sucht, und schließlich am Geltungsdrang von Businessgrößen, wie sein | |
Protagonist eine ist. | |
Solche, die, wenn sie davon fabulieren, in einem undankbaren Umfeld etwas | |
von Gewicht kreieren zu wollen, doch zuerst um Bewunderung, wenn man so | |
will, eine verquer-abstrahierte Form von Carvers „Liebe“, ringen. Iñárritu | |
wurde für seine treffsichere Satire mit dem [2][Oscar für die beste Regie | |
geehrt, ehe er die Auszeichnung für „The Revenant“] im darauffolgenden Jahr | |
erneut erhielt. | |
## Eine opulente Nabelschau | |
Nun kehrt er, sieben Jahre später, mit „Bardo, die erfundene Chronik einer | |
Handvoll Wahrheiten“ zurück. Es hätte sich gelohnt, sich das zitierte | |
Gedicht als Einleitung für dieses Projekt aufzuheben. Als eine Art ehrliche | |
Einordnung dessen, was in den kommenden zweieinhalb Stunden folgt. Eine | |
opulente Nabelschau nämlich, die vorgibt, eine gewichtige, anschlussfähige | |
Meditation über die fortwährende Suche nach einer aufrichtig gelebten | |
Identität zu sein, die jedoch eine hermetische Selbstbespiegelungstirade | |
bleibt. | |
Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass sich Iñárritu damit einem | |
Gebaren annähert, das er in „Birdman“ noch verurteilte. Ausgerechnet | |
Iñárritu, muss man hinzufügen, der anders als besagter Riggan Thomson gar | |
nicht unter Beweis stellen muss, dass er zu bedeutsamer Kunst fähig ist. Im | |
Gegenteil, das beinahe erdrückend Gehaltvolle, das schonungslos | |
Tiefschürfende, ist das eigentliche Element des mexikanischen Filmemachers. | |
Seine ersten drei, episodenhaft erzählten Filme „Amores Perros“ (2000), �… | |
Gramm“ (2003) und „Babel“ (2006) sind Reflexionen über die Verbundenheit | |
menschlicher Schicksale. Iñárritu wirft Fragen danach auf, wann es die | |
Schuld des Einzelnen ist, die zum Unglück des anderen führt, wann Leid das | |
Symptom eines ungerechten Systems ist – und wann es schlicht die Konsequenz | |
eines unentrinnbaren Zufalls zu sein scheint. Das mitschwingende Interesse | |
am Metaphysischen, wie es vor allem im [3][Sterbe-Drama „Biutiful“ (2010)] | |
zum Tragen kommt, zeichnete Iñárritu in der ersten Dekade seines Schaffens | |
besonders aus. | |
„Birdman“ stellte eine Abkehr davon dar. Eine, die sich mit „The Revenant… | |
– im Kern nichts anderes als eine heroisch-emotionale Abenteuergeschichte – | |
als eine Hinwendung zu konventionelleren, weltlicheren Themen erwies | |
und ihm einen bisher ungekannten Erfolg einbrachte. Sein neues Projekt | |
versprach allein durch den Titel eine Rückbesinnung auf seine ursprüngliche | |
Neugier zu werden. Im tibetanischen Buddhismus ist „Bardo“ ein Zustand | |
zwischen Tod und Wiedergeburt oder der endgültigen Erlösung aus diesem | |
Kreislauf. | |
## Surrealistische Angstträume | |
Zumindest im Hinblick auf das Spiel mit dem Überwirklichen ist der Film | |
eine Reminiszenz: Der Protagonist Silverio (Daniel Giménez Cacho) – ein | |
mexikanischer Journalist und Dokumentarfilmer, der mittlerweile in den USA | |
lebt – bewegt sich durch eine verworrene Mischung aus fantastisch | |
aufgeladenen Erinnerungsfetzen und surrealistischen Angstträumen, an deren | |
Interpretation Sigmund Freud seine Freude hätte. | |
Auslöser für seinen aufgewühlten Geisteszustand ist zunächst die Verleihung | |
eines prestigeträchtigen Journalismus-Preises, der mit ihm erstmals an | |
einen Lateinamerikaner vergeben wird. Der enorme Druck scheint eine | |
existenzielle Krise herbeizuführen, in der es unter anderem darum geht, | |
welche Beziehung er noch zu seinem Heimatland hat, was seine Identität | |
ausmacht, wie er zu seiner Familie steht, und was für ein Filmemacher er | |
sein möchte. | |
Dass Iñárritu während seiner langjährigen Abwesenheit über Ähnliches | |
reflektiert haben dürfte, ist nach den Oscar-Erfolgen naheliegend. Auch | |
ansonsten ist Silverio aufgrund einer Vielzahl an Überschneidungen als | |
Alter Ego des Regisseurs, der erneut mit Nicolás Giacobone (unter anderem | |
„The Revenant“) das Drehbuch erarbeitete, erkennbar. Während der | |
facettenreichen Traumreise, auf die sich „Bardo“ im Zuge dieser Reflexion | |
begibt, thront die innere Zerrissenheit zwischen Mexiko und den USA über | |
allem. | |
Um diese zu illustrieren, zeigt Iñárritu seinen Silverio in diversen | |
Konfrontationen. | |
Etwa in einem Gespräch mit dem US-Botschafter über die Gräuel des | |
Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs, die dieser abzuwiegeln versucht; in | |
einem albtraumhaften TV-Interview, in dem ihn der Moderator (Francisco | |
Rubio), aufgrund seiner wohlsituierten Stellung, seiner Begeisterung für | |
den American Way of Life, der Heuchelei bezichtigt, wenn er den Umgang des | |
Landes mit mexikanischen Einwanderern kritisiert; und im Zwist mit seinem | |
jugendlichen Sohn (Íker Sánchez Solano), der ihn fragt, weshalb er das Land | |
für Los Angeles verlassen habe, wenn er es doch fortwährend romantisiert – | |
der ihm vorwirft, in seinen Dokus die porträtierten Migranten auch nur | |
auszubeuten. | |
## Korrelationen mit der eigenen Biografie | |
Nachdem es sich bei „Bardo“ um den ersten Film seit seinem Debüt handelt, | |
für den der in Kalifornien lebende Iñárritu nach über 20 Jahren in seine | |
Heimat zurückkehrte und zwischenzeitlich einen VR-Kurzfilm produzierte, der | |
eine Flucht über die mexikanische Grenze in die USA zeigt, sind auch hier | |
Korrelationen mit seiner eigenen Biografie zu erkennen. | |
Meist kommen diese Selbstreferenzen allerdings weniger einem | |
Verwundbar-Machen gleich, als dass sie Grundlage zur Selbstverteidigung, | |
für ein Von-sich-Weisen jeder Kritik sind. Bezeichnend ist vor allem die | |
Szene, in der Silverio auf seinen Ex-Kollegen reagiert, indem er ihm | |
vorwirft, eine von Macht korrumpierte Form des Journalismus zu betreiben, | |
bevor er ihn schlicht auf „Stumm“ stellt. | |
Hinzu kommen privatere, stark klischeebeladene Exkursionen, in denen | |
Silverio – auf Kindergröße geschrumpft, aber mit dem Gesicht eines | |
mittelalten Mannes – mit seinem bereits verstorbenen Vater über die Härten | |
des Lebens spricht. Oder sein neugeborener Sohn fordert, zurück in den | |
Mutterleib verfrachtet zu werden, weil diese Welt einfach zu desolat sei. | |
Das Fehlen eines echten Narrativs, das über derlei technisch wie artistisch | |
herausragend inszenierte, aber inhaltlich beinah solipsistisch anmutende | |
Erzählfragmente hinausgeht, verhindert eine tieferes Eintauchen in den Film | |
– was ihn zu einem in meisterlichen Bildern erzählten, langatmigen | |
Ego-Projekt macht, das große Themen zwar durchaus streift, letztlich aber | |
immer um den Protagonisten beziehungsweise seinen Schöpfer kreist. | |
„Bardo“ wirkt damit wie das Werk eines Regisseurs, der bei allem | |
künstlerischen Können der Hybris erliegt, die Sicht der Welt auf seine | |
Person zu steuern, ihre Bewunderung einzufordern. Man hofft, dass dieser | |
Film nicht die letztgültige Antwort darauf sein wird, was für eine Art | |
Filmemacher Alejandro González Iñárritu künftig sein möchte. | |
16 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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