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# taz.de -- Nach Armbrust-Schüssen in Bremerhaven: Angeklagt wegen versuchten …
> Der 21-Jährige hatte in seiner ehemaligen Schule die Sekretärin
> lebensgefährlich verletzt. Er gesteht, sagt aber, dass er niemanden töten
> wollte.
Bild: Sein Ziel sei gewesen, sich von Polizist*innen erschießen zu lassen, erk…
Bremen taz | In die Augen schaut Berkan S. der Frau nicht, die er [1][am
19. Mai dieses Jahres fast umgebracht] hätte. Aber er entschuldigt sich bei
ihr, zumindest über ein Schreiben, das am Donnerstag einer seiner zwei
Anwälte für ihn vor dem Landgericht Bremen vorliest. Die betroffene
Schulsekretärin tritt bei dem Verfahren wegen versuchten Mordes als
Nebenklägerin auf. Auf die Entschuldigung reagiert sie mit leichtem
Kopfschütteln und gesenktem Blick.
Der Angeklagte S. soll ihr im Mai mit einer Armbrust zweimal in den
Oberkörper geschossen haben. Auch einen zweiten Menschen habe er töten
wollen, heißt es in der Anklage. Er habe gegen neun Uhr das Lloyd-Gymnasium
in Bremerhaven betreten, bewaffnet mit Armbrust, Schreckschusspistole,
Machete und Messer. Dann habe er nach seiner ehemaligen Lehrerin gefragt.
Nachdem ihm ihr Aufenthaltsort nicht genannt wurde, sei er auf die
Sekretärin getroffen. Aus vier Metern habe er ihr einen Stahlbolzen in den
Oberkörper geschossen; danach noch einmal aus sechs Metern von hinten in
den unteren Rücken. Nur eine Not-Operation habe das Leben der Frau
gerettet.
Danach sei er zur nahe gelegenen Kreuzung in der Bremerhavener Innenstadt
gegangen und habe dort auf einen Passanten gezielt. Zwei Pfeile hätten ihn
knapp verfehlt, einer auf Brusthöhe. S. habe den Tod beider Menschen
billigend in Kauf genommen, sagt der Staatsanwalt.
## Computerspiele führen zum Rückzug von S.
In der Anklage ist von verminderter Schuldfähigkeit die Rede. Daher sitzt
am Donnerstag auch eine Gutachterin mit im Saal. S. ist derzeit in der
Forensik untergebracht.
Mit seiner Stellungnahme, die sein Anwalt Thomas Domanski verliest, gibt
der 21-Jährige fast alles zu. Fast: Töten habe er nicht gewollt. Durch
seinen Anwalt erzählt er von seiner „schönen Kindheit mit Höhen und
Tiefen“, seinem Stottern und seinem Problem, über Gefühle zu reden. Nach
einem Beinbruch sei seine Fußballkarriere beendet gewesen, das Gaming sein
„Rückzugsort“ geworden.
Die Folge: [2][soziale Isolation, Depression]. Letztere sei während seiner
Schulzeit auf dem Lloyd-Gymnasium immer schlimmer geworden. Dafür, dass er
nach der 12. Klasse nicht zum Abitur zugelassen wurde, habe er seine
Lehrerin verantwortlich gemacht. Das war 2019. Im selben Jahr sei die
Trennung der Eltern gefolgt, sein Schlafrhythmus sei „katastrophal“
gewesen, er habe rund zwölf Stunden am Tag „gezockt“.
S., mittelgroß, mit kurzen schwarzen Haaren, in heller Hose und schwarzem
Pulli, schaut bei alldem kaum auf. Er beschreibt in der sogenannten
Einlassung weiter, dass er „suizidaler“ geworden sei, sich sogar aktiv an
Suizid-Foren beteiligt hätte. Seinem Vater habe er davon erzählt; aufgrund
seines muslimischen Glaubens sei er darüber traurig gewesen. S. habe daher
entschieden, durch Schüsse der Polizei sterben zu wollen. Er nennt den Plan
„Suicide by Cop“. Doch dann sei „alles anders als geplant“ verlaufen.
Statt seine ehemalige Lehrerin „zu bedrohen und zu konfrontieren“, bis die
Polizei kommt, habe er sie gar nicht angetroffen. Eher zufällig sei er im
Sekretariat gelandet, habe das Opfer angesprochen mit den Worten: „Sie
kennen mich doch auch noch, waren frech zu mir.“ Er habe nicht schießen
wollen, wenn überhaupt auf die Beine. Wegen seiner „Kurzsichtigkeit und
zitternden Hände“ habe er sie dann im Oberkörper getroffen. Ein zweites
Mal geschossen habe er, weil er sich „nicht ernst genommen fühlte“. Die
Nebenklägerin schüttelt bei den Worten erneut den Kopf, legt ihn in ihre
Hände.
„Es war kein Amoklauf“, liest der Anwalt weiter. Die Pfeile auf der Straße
habe S. dann „wahllos“ verschossen. „Ich wollte keine Person töten oder
verletzen.“ Er habe „Durchschlagskraft und Reichweite“ der Armbrust
unterschätzt. Ob er die Einlassung wirklich selbst verfasst hätte, fragt
Richterin Kasper. Auf ihre Bitte nimmt S. kurz seine schwarze Coronamaske
ab. „Ja, das stimmt“, sagt er.
## Ehemalige Lehrerin nahm S. als unauffällig wahr
Später sagt auch die Lehrerin aus, die S. im Mai nicht gefunden hatte. Sie
umarmt vor ihrer Aussage die Sekretärin, sie reden kurz und zucken
fassungslos mit den Schultern. Ein zweites Mal muss S. seine Maske
abnehmen, damit die Lehrerin und er sich gleichermaßen sehen können, sagt
die Richterin. Doch auch sie schaut S. nicht an, legt die meiste Zeit
seinen Kopf auf die Arme.
Die Lehrerin erzählt, immer wieder unter Tränen und mit ihrem Mann an ihrer
Seite, dass die Polizei sie am Tag der Tat gefragt habe, wer etwas gegen
sie haben könnte. „Dazu konnte ich wirklich nichts sagen.“ Als ihr später
der Name des Täters genannt wurde, sei sie überrascht gewesen. Eher
unauffällig habe sie ihn in Erinnerung. Zwei Jahre lang habe sie S. in
Deutsch und Englisch in der Oberstufe unterrichtet. Diskussionen über
Noten, die laut Richterin in einem Chat-Verlauf von S. und einem Kollegen
der Lehrerin Thema waren, erinnere sie nicht.
Sie erzählt, wie es ihren Schüler*innen im Mai ergangen sei, als sie
stundenlang wegen des Amok-Alarms in den Räumen ausharren mussten. „Ich
habe sie Beleidigungen in ihrer Muttersprache aufsagen lassen, um sie
abzulenken.“ Es kursierten Gerüchte von weiteren Tätern.
Zwölf Arbeitstage nach der Tat sei die Lehrerin zurückgekehrt. Sie lebe
heute „zurückgezogen“, nehme Schlaftabletten und vermeide es, auszugehen.
Auch die Sekretärin soll im Laufe des Prozesses gehört werden.
10 Nov 2022
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## AUTOREN
Alina Götz
## TAGS
Gewalt in der Schule
Bremerhaven
Landgericht Bremen
Prozess
Computerspiel
Depression
Suizid
Schüsse
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