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# taz.de -- Chefredakteur über Medien in Argentinien: „Wir wollten es anders…
> Das junge und unabhängige Medium „elDiarioAR“ will durchdringen und nicht
> untergehen. Ein Gespräch über ein gespaltenes Land und Turbo-Journalismus
Bild: Mitglied der Chefredaktion Walter Curia (links) mit Redakteurin Victori…
taz am wochenende: Herr Sivak, [1][Argentinien schuldet dem
Internationalen Währungsfonds] mehr Geld als irgendein anderes Land und
leidet seit Jahrzehnten an einer Inflation im Achterbahnmodus. Im Zweifel
investieren große Unternehmen lieber woanders. Ein Teufelskreis. Wie kamen
Sie dazu, unter diesen Bedingungen im Dezember 2020 ein Onlinemedium zu
gründen?
Martín Sivak: Es ging darum, mit [2][elDiarioAR] eine Leerstelle zu füllen.
Die Medienlandschaft in Argentinien ist einerseits vielfältig, aber wie
überall in Lateinamerika gibt es eine starke Konzentration bei einigen
wenigen Akteuren. In Argentinien ist deren Finanzierung undurchsichtig und
ihre Unabhängigkeit zweifelhaft. Wir wollten es anders machen.
Und wie?
Wir hatten Glück, dass [3][das spanische Onlinemedium elDiario.es] mit uns
kooperieren wollte und uns mit Startkapital geholfen hat. Langfristig
wollen wir uns auf vier Pfeiler stützen: Abos, private Werbung, staatliche
Werbung und Rechercheförderungen von NGOs. Unsere Abonnenten sind dabei
der wichtigste Pfeiler. Es ist allerdings eine Herausforderung, ihre Zahl
zu steigern. Mitgliedschaften haben keine große Tradition in Argentinien.
Und steigt mal wieder die Inflation, ist ein Abo das erste, was die Leute
kündigen.
Ihre Redaktion versammelt namhafte Journalist:innen, die vorher für große
Medienhäuser gearbeitet haben. Womit konnten Sie sie locken?
In den großen Traditionshäusern haben sie vielleicht mehr verdient, aber
vielen fehlte es an Gestaltungsspielräumen. Wir sind ein kleines Team mit
flachen Hierarchien und wir passen die Gehälter entsprechend der Inflation
an. Das machen auch nicht alle. Ich glaube, am Ende ist es die
Sinnstiftung, die moralische Verantwortung, der Antrieb, objektiven
Journalismus zu machen.
Stichwort Objektivität. In Argentinien geistert seit über einem Jahrzehnt
ein Wort durch Gesellschaft, Politik und Medien: La grieta, der Riss. Er
trennt das Land in zwei unversöhnliche politische Lager: in die
peronistische, links-progressive Kirchner-Anhängerschaft und ihren
rechts-konservativen Gegnern. Wird objektiver Journalismus denn überhaupt
belohnt?
Wir bekommen immer wieder wütende Mails von Leserinnen und Lesern, die
unsere Berichterstattung kritisieren. Neulich hat ein Leser in einer Mail
alle bisherigen 18 Artikel von elDiarioAR zum Korruptionsprozess gegen
Cristina Kirchner auseinandergenommen. Aus seiner polarisierenden Haltung
sprach ein recht deutlicher „confirmation bias“, also ein
Bestätigungsfehler. Das heißt, der Leser liest das Medium nicht, um über
Tatsachen informiert zu werden, sondern um in der eigenen Meinung bestätigt
zu werden.
Und haben Sie reagiert?
Ja, wir antworten in der Regel immer. Für uns gehört es zur Aufgabe einer
Zeitung, eine Beziehung zu ihren Lesern aufzubauen. Wir haben
geantwortet, dass die Fakten in den Artikeln stimmen, dass wir mit seiner
Sichtweise nicht einverstanden sind, sie aber respektieren. Insgesamt
haben wir ein progressives Publikum, von der Mitte bis zur Linken. Aber
gleichzeitig sind wir eine sehr pluralistische Zeitung. Es schreibt auch
ein Autor für uns, der in der konservativen Partei PRO des Ex-Präsidenten
Mauricio Macri ist.
Der Riss zeigt sich auch am verfehlten Attentat auf die Vize-Präsidentin
Cristina Kirchner, das am 1. September das Land erschüttert hat. Wie haben
Sie das erlebt?
Das war eines der bedeutendsten Ereignisse, seit es unsere Redaktion gibt.
Aber die Anspannung in der Gesellschaft war auch vorher schon groß. Als
mein Sohn vor drei Monaten zur Welt gekommen ist, zog der Arzt im Kreißsaal
direkt nach der Geburt über die Wirtschaftsministerin her und sagte zu
meinem Neugeborenen: „Ihretwegen wirst du es niemals aus diesem Land raus
schaffen.“ Ich bin ein besonnener Mensch. Wäre ich ein Verfechter der
Regierung gewesen, wäre die Diskussion schnell hitzig geworden. Nicht
auszumalen, was passiert wäre, wenn das Attentat auf Cristina Kirchner
geglückt wäre. Es hat uns als Redaktion schockiert: Politische Gewalt hat
es in Argentinien nach der Wiederherstellung der Demokratie 1983 nur noch
in Einzelfällen gegeben. Eine solche Rückkehr zur politischen Gewalt hat
niemand erwartet.
elDiarioAR veröffentlicht immer wieder auch investigative Recherchen zu
Umweltthemen, in denen kritisch über die großen Wirtschaftssektoren der
Agrar- und Rohstoffindustrie berichtet wird. Wie finden das die
Unternehmen, die in Ihrem Medium inserieren?
Es kommt vor, dass uns ein Unternehmen mit der Kündigung einer Anzeige
droht. Aber wir bestimmen die Spielregeln, und das macht uns aus. Bei den
Pandora Papers haben wir zum Beispiel eine Ölgesellschaft beim Namen
genannt, die Steuergelder über sogenannte Offshore-Dienstleister im Ausland
veruntreut haben soll. In anderen argentinischen Zeitungen wurde der Name
dieser Ölgesellschaft nicht erwähnt. Wenn uns so eine Firma vor die Wahl
stellt, geben wir die Anzeige ganz klar auf. Gleichzeitig bedeutet das
nicht, dass wir prinzipiell einen Antiölkonzern-Diskurs fahren würden.
Nach welchen Spielregeln spielen die anderen Medien in Argentinien?
Viele reichweitenstarke Medien sind erfolgreich, weil sie schnell sind,
weil sie Eilmeldungen per Push-Nachricht versenden, und weil sie auch
Boulevardjournalismus machen. Es ist nicht so, dass wir das Rezept für
guten Journalismus erfunden hätten. Den gibt es längst, der muss also nicht
erst neu erfunden werden. Was wir getan haben, war, gute Journalistinnen
und Journalisten zu versammeln, die sich den ursprünglichen Prinzipien
verschrieben haben. Und wir glauben daran, dass auch dieses Modell
erfolgreich sein kann.
21 Oct 2022
## LINKS
[1] /Argentiniens-Schuldenkrise/!5840815
[2] https://www.eldiarioar.com/
[3] https://www.eldiario.es/
## AUTOREN
Nora Belghaus
## TAGS
Argentinien
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rechte Verlage
Schwerpunkt Überwachung
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