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# taz.de -- Wahlen in Israel: Boykott ins Abseits
> Israels nächster Regierung könnten rechtsextreme Parteien angehören. Nur
> ein egalitärer jüdisch-palästinensischer Schulterschluss kann das
> stoppen.
Bild: Wahlplakat der Nationalen Einheitspartei in Ramat Gan, Israel
Es ist die fünfte Wahl in dreieinhalb Jahren: Am Dienstag wählt Israel eine
neue Knesset, wobei sich alles um die Frage dreht, ob es Benjamin Netanjahu
und seinen ultranationalistischen und religiösen Verbündeten gelingt, mehr
als 60 der 120 Sitze zu erringen. Sollten sie das schaffen, droht in
Jerusalem [1][die rechteste Regierung] seit der Zweiten Intifada vor 20
Jahren – möglicherweise mit einem bekennenden Rechtsextremisten als
Minister. „Gewiss“ gebe es Platz für Itamar Ben-Gvir in seinem Kabinett,
versicherte der nach 16 Monaten in der Opposition zurück an die Macht
drängende Netanjahu im Wahlkampf dem Shootingstar der radikalen Rechten.
Ben-Gvirs Partei Jüdische Stärke tritt gemeinsam mit Netanjahus Likud sowie
dem rechtsnationalistischen Religiösen Zionismus Bezalel Smotrichs an.
Was eine Regierungsbeteiligung des der neofaschistischen kahanistischen
Bewegung nahestehenden Ben-Gvir für das Zusammenleben zwischen den 2
Millionen palästinensischen und den rund 7 Millionen jüdischen Israelis
bedeuten würde, hat der 46-Jährige wiederholt selbst deutlich gemacht. Sein
arabophobes Programm liest sich wie der Aufruf zum Bürgerkrieg: Deportation
„illoyaler“ arabischer Bürger Israels, erzwungene Emigration von
Palästinensern nach Europa sowie die Zerschlagung der Autonomiebehörde von
Mahmud Abbas in Ramallah, um nur einige Punkte zu nennen.
Die xenophoben Parolen von Politikern wie Ben-Gvir und Smotrich stoßen vor
allem in der israelischen Peripherie [2][auf Zustimmung] – in den von
Netanjahus Likud vernachlässigten Gemeinden im Süden Tel Avivs etwa, im
Negev und am Rande des Gazastreifens. Unter den 2 Millionen
palästinensischen Israelis hingegen wecken sie neue Ängste vor
pogromartigen Ausschreitungen wie im Mai 2021. Im Schatten des elftägigen
Gaza-Kriegs hatten vor anderthalb Jahren jüdische Extremisten in
binationalen Städten wie Akkon, Ramla und Jaffa regelrecht Jagd auf
arabische Einwohner gemacht. An fast allen Schauplätzen der Gewalt an
vorderster Front dabei: rechte Siedler aus dem Westjordanland.
Der gesellschaftliche Kitt wird aber auch von palästinensischer Seite
bedroht: In Lod verhängte die Armeeführung im Mai 2021 den Ausnahmezustand,
nachdem arabische Bewohner der binationalen Stadt jüdische Bürger
angegriffen und Synagogen angezündet hatten. Von einer neuen
„Kristallnacht“ war die Rede; viele Israelis stellten bestürzt fest, wie
schmal der Grat zwischen vordergründig freundschaftlichen nachbarlichen
Beziehungen und bewaffnetem Konflikt ist. [3][Der Schreck unter den linken
und zentristischen Parteien der Anti-Netanjahu-Allianz] über die
interkonfessionellen Ausschreitungen war größer als der über die elftägigen
Angriffe der israelischen Luftwaffe auf den Gazastreifen.
Seitdem sind von linker Seite die Rufe nach einer dezidiert
jüdisch-palästinensischen Partei wieder lauter geworden. „Ich bin der
Meinung, dass eine egalitäre jüdisch-arabische sozialdemokratische
Linkspartei gegründet werden sollte“, fordert etwa die Vorsitzende der
sozialdemokratischen Meretz-Partei, Zehava Galon, gegenüber der taz. „Eine
Partei, die Menschen, die für Gleichheit einstehen und für ein gemeinsames
Leben von Juden und Arabern, Antworten geben kann.“ Doch in der
aufgeheizten öffentlichen Debatte stoßen nicht die Rufe nach friedlichem
Zusammenleben und demokratischem Ausgleich auf Zustimmung, sondern die
Parolen des rechten Blocks. „Leider gibt es in der jüdischen
Öffentlichkeit immer noch großes Misstrauen gegenüber einer solchen
Partei“, so Galon ernüchtert.
Die ethnokonfessionell motivierten Ausschreitungen von Mai 2021 sind das
Ergebnis eines Jahrzehnts rechter Hetze, die durch Netanjahu befördert
wurde. Immer intoleranter wurden die Kabinette, die er angesichts
schwindender Stimmen für seinen Likud zusammenstellte. Netanjahu goss auch
selbst Öl ins Feuer: Als „existenzielle Bedrohung“ beschrieb er in der
Vergangenheit israelisch-arabische Politiker, die das Ziel verfolgten, „uns
alle auszulöschen“. Und der diesen Sommer nach nur einem Jahr als
Ministerpräsident aus dem Amt geschiedene Naftali Bennett verglich noch
2018 palästinensische Terroristen mit Moskitos.
Nicht nur rassistische Sprüche wie dieser, sondern handfeste politische
Entscheidungen haben auf palästinensischer Seite das Gefühl verstärkt, in
Israel bestenfalls Bürger zweiter Klasse zu sein. So sorgte die Knesset mit
dem 2018 verabschiedeten Nationalstaatsgesetz dafür, dass Arabisch als
Amtssprache abgeschafft und Israel als „Nationalstaat des jüdischen
Volks“ definiert wurde. Weil sie sich nicht zugehörig fühlen, ist ein
Boykott der Wahlen für Tausende palästinensische Wähler eine
nachvollziehbare politische Option – obwohl bei geringer arabischer
Wahlbeteiligung die Chancen für Netanjahu und seine rechten Verbündeten
deutlich steigen, die zur Regierungsbildung erforderliche Mehrheit von 61
Sitzen in der Knesset zu erzielen.
Für den gesellschaftlichen Kitt ist die Abstinenz großer Teile des
arabischen Sektors vom Wahlprozess eine reale Bedrohung. Denn die
antiparlamentarische Skepsis schwächt die Anti-Netanjahu-Allianz. Da jede
Stimme, die den vier arabischen Parteien fehlt, eine Regierungsbeteiligung
der [4][Rechtsextremisten Smotritch und Ben-Gvir] befördert, appellieren
linke palästinensische Stimmen deshalb vehement für eine Stimmabgabe: Es
sei der jungen arabisch-israelischen Bevölkerung gegenüber nicht zu
verantworten, nicht alles zu tun, um einen Rechtsextremisten in der
Regierung zu verhindern. So viel ist klar: Angesichts der anhaltenden
Angriffe des rechten Lagers auf die Grundpfeiler von Demokratie und
Rechtsstaat gibt es zu einem Schulterschluss progressiver palästinensischer
und jüdischer Kräfte keine Alternative. Sonst verlieren alle.
1 Nov 2022
## LINKS
[1] /Die-Aufloesung-der-Knesset-in-Israel/!5863623
[2] /Eskalation-um-den-Tempelberg/!5849676
[3] /Schwere-Krise-in-Israel/!5767361
[4] /Israel-Palaestina-Konflikt/!5834884
## AUTOREN
Markus Bickel
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Israel
Palästina
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Jair Lapid
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Siedlungen
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