# taz.de -- Landtagswahl in Niedersachsen: Alte Liebe, neue Streitigkeiten | |
> Im Wahlkreis Hannover-Linden zeigt sich, was Rote und Grüne eint, aber | |
> auch trennt. Die Koalitionsverhandlungen werden möglicherweise nicht so | |
> einfach. | |
Bild: Prominente Unterstützung: Außenministerin Annalena Baerbock im Wahlkamp… | |
HANNOVER taz | Innerhalb Hannovers gilt Linden als „Szene-Viertel“: Alle | |
lästern drüber und gehen dann doch hin. So wie in Berlin Prenzlauer Berg – | |
nur dass die Mieten langsamer steigen. Früher war Linden mal ein | |
Arbeiterdorf, von der Stadt abgetrennt durch Ihme und Leine, die Flüsse, an | |
denen die Fabriken lagen. Irgendwann hielten Migranten und Studenten | |
Einzug, nun beklagt man die Gentrifizierung und die Lärmbelästigung durch | |
Feierwütige. | |
[1][Im Wahlkampf war Linden] ein Hotspot ganz eigener Art – hier liefen | |
Annalena Baerbock und Gregor Gysi auf – und „Die Partei“ feierte mit | |
Punkmusik den Wahlsieg schon am Samstagabend vor dem Öffnen der Wahllokale. | |
Als Direktkandidatinnen treten hier drei Frauen an: Dr. Thela Wernstedt | |
(SPD), Evrim Camuz (Grüne) und Martina Machulla (CDU). | |
Am Ende entscheidet sich das Rennen hier zwischen Thela Wernstedt (SPD) und | |
Evrim Camuz (Grüne). Wernstedt (55 Jahre) ist Ärztin und entstammt | |
praktisch einer sozialdemokratischen Familiendynastie. Ihr Vater, Rolf | |
Wernstedt, war lange Jahre Kultusminister und danach Landtagspräsident – | |
„der schlimmste und der schönste Job, den man in der niedersächsischen | |
Landespolitik haben kann“ – wie seine Tochter sagt. | |
Wobei es ein wenig unfair ist, so zu tun, als wäre sie hauptberuflich | |
Tochter. Thela Wernstedt hat durchaus einen sehr eigenen Weg gewählt: Sie | |
wurde Ärztin, spezialisierte sich als Anästhesistin auf Palliativmedizin | |
und Medizinethik, arbeitete lange außerhalb Niedersachsens. | |
Aber dann trat sie eben doch noch in die Fußstapfen des Vaters und nun | |
steht sie an den Wahlkampfständen und beantwortet Fragen danach, wie es ihm | |
geht. Zweimal hat sie diesen Wahlkreis direkt gewonnen, die aktuelle Wahl | |
ist ihre dritte – und noch nie war es so knapp. | |
## Klare Sprache und Buzzwörter | |
Ein Verlust wäre wirklich bitter, denn anders als ihre Konkurrentinnen ist | |
sie nicht über die Liste abgesichert, würde also aus dem Landtag fliegen. | |
Am Ende gewinnt sie knapp mit gerade einmal 1.355 Stimmen Vorsprung. | |
Dass ihre grüne Konkurrentin ihr bei einer Podiumsdiskussion unverblümt | |
genau diese Privilegiertheit und Etabliertheit unter die Nase rieb, empört | |
einen der älteren Genossen am Wahlkampfstand immer noch, schließlich | |
versteht man sich selbst hier als natürlichen Vertreter der Armen und | |
Benachteiligten. | |
Aber den Satz „sowas macht man doch nicht“ hört Evrim Camuz (Grüne) wohl | |
öfter. Die angehende Juristin mit dem Schwerpunkt Rechtsinformatik hat zwar | |
einen beeindruckend internationalen Lebenslauf mit Stationen in Barcelona, | |
Toulouse, Maastricht, London und Boston vorzuweisen. Gleichzeitig gehörte | |
sie aber auch zu jenen „migrantisch gelesenen“ Kindern, denen Lehrer am | |
Gymnasium lieber mal vom schweren Jura-Studium abraten. | |
Aus den USA und England hat Camuz ein Faible für direkte, klare Sprache | |
mitgebracht, gleichzeitig jongliert sie mühelos mit aktuellen Buzzwörtern | |
wie „Tokenism“, die einer Thela Wernstedt kaum über die Lippen kommen | |
würden. | |
Camuz glaubt, dass sich Politik und Verwaltung dringend besser erklären | |
müssen, Wernstedt wirkt mit ihrer abwägenden, nachdenklichen Art und ihrer | |
intimen Kenntnis des politischen Geschäfts eher als glaube sie, man müsse | |
den Leuten Politik und Verwaltung besser erklären. Camuz, die schon länger | |
in der Kommunalpolitik aktiv ist, stößt mit ihrer direkten und | |
temperamentvollen Art manchmal auch Leute vor den Kopf, ohne das zu wollen. | |
Und auch wenn sie offiziell immer wieder beteuert, wie wichtig und gut das | |
rot-grüne Bündnis sei: Wenn sie mit Kolleg*innen aus der Kommunalpolitik | |
zusammensteht, geht es eben doch sehr schnell auch darum, wo die SPD nun | |
schon wieder vorgeprescht ist oder was sie abgebügelt hat. | |
## Schon 2013 knurrten einige Grüne | |
Das gehört zum Standardrepertoire der Geschichten, die man sich | |
übereinander erzählt: Die SPD und ihr Hang zur Arroganz der Macht, die so | |
tief in der Logik des Apparats feststeckt, dass sie keine kreativen | |
Lösungen mehr zu finden vermag. Und die [2][Mär von den Grünen mit i]hrem | |
naiven Idealismus, denen man erst einmal erklären muss, wer hier am Ende | |
die Kapelle bezahlt und was sowieso alles gar nicht geht. | |
Es wird spannend zu sehen, wie sich das in den Koalitonsverhandlungen | |
auswirkt: Auf der einen Seite haben die Grünen deutlich an Erfahrung und | |
damit vielleicht auch an Pragmatismus gewonnen, auf der anderen Seite hat | |
dieses neue grüne Selbstbewusstsein – Rekordergebnis, Zugewinne, zum ersten | |
Mal drei Direktmandate – ein paar Kratzer bekommen, weil der Höhenflug nun | |
eben doch nicht so hoch ausfiel wie erhofft. | |
Schon beim letzten Mal 2013 knurrten im Grünen Umfeld einige, die Partei | |
habe sich vor lauter Begeisterung mitregieren zu dürfen, von den Sozis zu | |
weit über den Tisch ziehen lassen. | |
Damals kamen allerdings beide Parteien aus der Opposition neu in | |
Regierungsverantwortung – heute steht den Grünen eine SPD gegenüber, die | |
zehn Jahre Regierungserfahrung und damit einen gewaltigen Apparat im Rücken | |
hat – und überhaupt keine Hemmungen jede Art von Amtsinhaberbonus | |
auszuspielen. | |
Wobei es eben auch nicht nur der Amtsinhaberbonus ist, wenn man noch einmal | |
auf den Wahlkreis 25, Hannover-Linden blickt. Der besteht ja in | |
Wirklichkeit auch nicht nur aus dem Hipster-Stadtteil, in dem die Grünen – | |
sehr zur Kränkung der örtlichen SPD – bei den Kommunalwahlen schon länger | |
ordentlich abräumten. Zum Wahlkreis gehören auch noch 15 weitere Stadtteile | |
mit ganz anderen, zum Teil deutlich härteren Problemen. Vahrenheide zum | |
Beispiel – einer der ärmsten Stadtteile in Hannover, wo Menschen häufig von | |
Sozialleistungen leben müssen und selten wählen gehen. | |
Wernstedt (SPD) kennt diese Stadtteile alle sehr genau, Newcomerin Camuz | |
(Grüne) hat einige davon zum ersten Mal betreten. Wernstedt profitiert | |
dabei nicht nur von ihrer langen Erfahrung, sondern auch davon, dass hier | |
die Ortsvereinsstrukturen und die Verankerung im sogenannten vorpolitischen | |
Raum, in den Kirchengemeinden, den Vereinen und Verbänden, noch ganz gut | |
funktioniert, während die Grünen oft Schwierigkeiten haben, aus ihrer Blase | |
heraus zu finden. | |
Von außen betrachtet mögen das Nuancen sein, aber es ist vielleicht kein | |
Wunder, dass SPD-Genossen, die sich als „Kümmerer“ verstehen, befremdet | |
reagieren, wenn ihnen Grüne erklären wollen, wie Empowerment funktioniert. | |
Allerdings sind Rote wie Grüne auch entschlossen sich zusammen zu raufen. | |
Aus beiden Fraktionen hört man, dass bei Hilfspaketen und Energiewende nun | |
schnell etwas passieren müsse. „Keine Zeit für Sprüche“ plakatierte Weil… | |
Wahlkampf, keine Zeit für Spielchen könnte die Parole für | |
Koalitionsverhandlungen lauten. | |
10 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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