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# taz.de -- Comic „Nadel und Faden“: Hunde wie du und ich
> Luka Lenzins Comic „Nadel und Folie“ erzählt vom Alltag in der
> Drogenarbeit. Er ist realistisch, politisch kompromisslos und doch
> mitunter humorvoll.
Bild: Konzentrierte Vorbereitung: je geringer die Toleranz, desto riskanter der…
Längst gilt ja auch für Comics, dass es viel zu viele gibt. Nicht mal die
guten kannst du alle lesen, und dann vertrödelst du auch noch immer wieder
Zeit mit den nervig vielen überflüssigen, die ganz nett sein mögen, die
jedoch letztlich nichts zu erzählen haben, es aber doch tun, weil, von
irgendwas musst du ja leben.
Das krasseste Gegenteil davon ist Luka Lenzins gerade bei Reprodukt
erschienener Band „Nadel und Folie“: Er ist notwendig und schonungslos. Und
ja doch, er hat auch einen klugen Humor, für die schon die Zwillingsformel
des Titels ein gutes Beispiel ist: Was fürs Schneiderhandwerk Nadel und
Faden sind eben Spritzenkanüle, also Nadel, und die Alufolie für den
Drogenkonsum, um den es hier geht. Das Werk ist ein fulminanter Appell für
dessen Legalisierung und Normalisierung.
Lenzin findet für das, was in diesem Zusammenhang erzählt und bewegt werden
muss, – beim Hamburger Comicfestival kann man sich auch in einer
Ausstellung davon überzeugen, um dann, weil es nun mal nicht anders geht,
das Buch zu erwerben – den richtigen Rhythmus, die richtigen Worte und
einen Strich, der entschieden roher ist, als im [1][Post-Punk-Epos „rpm“.]
Das, 2011 veröffentlicht, war zurecht von der Kritik gefeiert worden und
auch durchaus ein Verkaufserfolg: Seine Brüche, sein Fragmentieren dienten
einem ästhetischen Konzept, das selbst durchaus Thema des Buchs war – und
deshalb, gerundet und geglättet, eine fast verräterisch schöne
Linienführung erlaubt hatte.
## Mit den Augen einer Hilfskraft
Damit ist jetzt Schluss: Durch langjähriges Jobben als Hilfskraft kennt
Lenzin, auch Mitglied der Hamburger Bands Honeyheads (bis 2015), [2][Twisk]
und [3][Plastiq], den Alltag einer Hamburger Drogenberatung. In „Nadel und
Folie“ gelingt, dessen Aspekte in einem fiktiven Arbeitstag der Hilfskraft
Luka, aka Kosmos, zusammenzufassen und in Bilder und Dialoge zu übersetzen.
In denen bleiben Verletzungen und Verwerfungen aller Beteiligten an jedem
Punkt spürbar: Das Buch ist gesättigt von Wirklichkeit, mehr als viele
journalistische Reportagen. Und es ist humaner, gerade weil die Figuren
hier Fuchsköpfe tragen oder Entenschnäbel haben oder die Physiognomie
irgendeines anderen Haus-, Feld- oder Waldtiers. Dabei wird klug jeder
Entenhausen-Schematismus unterlaufen: Noch nicht mal alle Polizisten sind
Schweine.
Sie können auch ganz normale Hunde sein oder schräge Vögel, wie du und ich.
Statt homogener Blöcke schafft Lenzin also eine Vielheit, vielleicht
[4][eine Multitude im Sinne Antonio Negris]. Und gerade deshalb entfaten
auch die essayistischen Passagen des Buchs erhebliche politische
Dringlichkeit.
Oft, nicht immer, sind sie durch schwarze Hintergründe optisch von der
Erzählung abgesetzt, gehen dann aber nach ein paar Seiten zwanglos und fast
unmerklich wieder in sie über, geraten zur Stimme aus dem Off. Während die
noch vom kolonialen Opiumkrieg des 19. Jahrhunderts erzählt, lässt das
zugehörige Panel, statt den historischen Abriss weiter zu illustrieren,
eine unangenehme Hamburger Polizeistreife vor einer Sparkassen-Filiale
cruisen.
Diese sachkundlichen Passagen sind als innere Monologe des narrativen Ich
gestaltet. Neben der Kulturgeschichte der Opiate und der Prohibition
reflektieren sie beispielsweise soziologisch die Wirkung der Repression und
philosophisch die Frage nach der Bewertung von Drogenabhängigkeit als einer
Krankheit – also warum diese Anerkennung geboten, und warum auch sie nicht
unproblematisch ist.
„Krankheit ist ein Seinszustand, der Auskunft gibt über die Setzung von
Gesundheit als normal und von Normen als gesund“, heißt es, (durchgehend in
aufmüpfig unterschiedlichen Großbuchstaben gelettert) an einer jener
Stellen, an denen Luka Lenzin einlädt, eigene Gewissheiten zu erschüttern:
Wäre die Kranksprechung am Ende nicht auch nur eine stigmatisierende
Kategorisierung, um sich das Problem vom Leib zu halten und die
Selbstbestimmung der zu verwaltenden und behandelnden Substanzgebrauchenden
zu leugnen?
Schicksal ist auch so ein Begriff, der das tut. Die Geschichten der Leute,
denen Luka auf der Arbeit begegnet, würden wahrscheinlich landläufig mit
diesem fatalen Begriff belegt, weil sie so hart sind. Sie sind in kurzen
Sequenzen in den Beratungsstellenalltag integriert, ungeschönt, in den
Worten ihrer Protagonisten etwa des afghanischen Papis, der beim
Tischdecken im Aufenthalts- und Essraum von seinem Traum erzählt, für sein
„Bejbi“ daheim Geld zu verdienen, „drei Wochen habe ich hier Arbeit“, s…
er.
Dann sieht man, wie er vom Laster, der ihn zuvor zur Baustelle gekarrt
hatte, unter Drohungen vertrieben wird, natürlich ohne Lohn. Aber das sind
keine Schicksale. Das sind eben Lebenswege, die Menschen sich schaffen,
keine vorbestimmten Bahnen, und es sind eben auch Schläge von konkreten
Individuen und von menschgemachten Institutionen, die sie erfahren und zu
verkraften haben. Was sie vielleicht nicht können, oder vielleicht nur dank
Drogen können.
Es sind aber auch Erfolge, die diese Menschen erringen – und die geradezu
taumeln lassen, weil man zu sehr verinnerlicht hat die Vorstellung von
Unzurechnungsfähigkeit und Substanzkonsum. Die Leistung, dass jemand mit
fast 50 Jahren Heroin-Konsum „nie gedrückt, nur inhaliert“ haben will, darf
man das denn glauben? Und, noch krasser, eine Crack-Userin als
Schwerlastkranfahrerin im Hamburger Hafen? Ja kann denn das zusammengehen?
Ist das nicht gefährlich?
Ja, es gibt Menschen, die ihren Konsum kontrollieren können. Ebenso, wie er
sehr oft in elende Hilflosigkeit führt, bei der dann der Verzehr eines
simplen Puddings zur unlösbaren Herausforderung wird: Der Kopf knallt in
den Napf, dass der Vanilleschmodder hoch aufspritzt, als der eben noch
fröhliche Typ am Tresen der Drogenberatungsstelle von einem Moment auf den
anderen weggetreten ist.
„Aber Sputnik, nicht im Schälchen einschlafen“, entschärft Luka die
lächerliche, aber gar nicht so ungefährliche Situation. Man kann ja auch in
Flammeri ersticken. Die Situation steht da für sich.
Da ist kein falsches Mitleid, da sind auch keine dramatischen Zuspitzungen,
die irgendwelche trivialen Bedürfnisse bedienen, durch ausgetüftelte
Spannungsbögen gefesselt zu werden, wie in einem gediegenen realistischen
Roman. Der Comic „Nadel und Faden“ ist viel realer als das. Er soll nicht
echt wirken. Er wirkt aber, weil er so echt ist.
29 Sep 2022
## LINKS
[1] /!307528
[2] https://twiskband.com/
[3] https://plastiqcamp.bandcamp.com/album/interstation
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Multitude
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Comic
Hamburg
Drogen
Ausstellung
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