# taz.de -- Britischer Elektronikproduzent Mark Fell: Geisterfahrer des House | |
> Gegenwartsbritzeln: Der Brite Mark Fell experimentiert beim Festival | |
> „Aggregate“ in der Berliner Gedächtniskirche mit einer elektronischen | |
> Orgel. | |
Bild: Mark Fell im Unterholz | |
„Es ist nicht meine Absicht, konfrontative Musik zu machen, in meinen Ohren | |
klingt sie einfach nur schön.“ Herausfordernd ist Mark Fells Musik auf | |
jeden Fall, immer direkt, dabei nie ihre Aggregatzustände verhehlend. | |
Gerade, weil Klangwelten vollständig maschinell erzeugt werden, führt Fells | |
Musik sofort zu Wirkungen: Man wird in sie, wie von der Düse eines | |
Staubsaugers, eingesaugt. | |
Seit er Ende der Neunziger, erst als Teil des Sheffielder House-Duos SND, | |
später solo, etwa mit dem Projekt Sensate Focus aktiv war, stand er [1][mal | |
näher], mal weiter entfernt vom Diskurs, [2][ungeachtet dessen hat er | |
kontinuierlich weiter gewerkelt]. „Angefangen habe ich mit | |
Billo-Drumcomputern und Monosynthesizern. Ihr rhythmisches Grundrauschen | |
und ihr synthetischer Sound prägen mich heute noch“, erzählt Mark Fell der | |
taz. | |
Man bemerkt in seinem Sound das, was vorher an Synth-Pop, Industrial-Music | |
und Rave stattgefunden hat. Aber was Fell daraus macht klingt wie nichts | |
sonst von dieser Welt. Immer blitzt darin die Gegenwart auf und nicht ein | |
sentimentaler Aufguss von tausendmal erhitzter Vergangenheit. | |
## Stolpern und Luftholen | |
„The Neurobiology of Moral Decision Making“, ein Album, das der Brite 2015 | |
zusammen mit Gabor Lazar veröffentlicht hat und das vor Kurzem erneut | |
herauskam, ist so ein Fall: trockene Tontrauben, denen der Rhythmus | |
spielerisch den Boden wegzieht und doch im Flow: kristallklares Pfeifen und | |
Prasseln, Stolpern, Luftholen und Wieder-Stolpern. | |
Charakteristische Dancefloor-Elemente wie Handclaps oder das Wummern einer | |
Bassdrum sind vorhanden, aber verquer im Klangraum angeordnet: Ein | |
Geisterfahrer des House. „Eigentlich laufen meine Kompositionen auf | |
spektrale statische Formen hinaus, interessant daran sind die | |
Klangumgebungen, und wie ich diese kombinieren und in neue Patterns | |
sequenzieren kann.“ | |
Für die Produktion nutzt der Produzent die objektbasierte | |
Programmiersprache Max/MSP. Diese funktioniert visuell, das heißt, die | |
Entwicklungsumgebung wird am Bildschirm grafisch dargestellt. „Ich bin mir | |
bewusst, dass meine künstlerische Praxis auf systemischen Verfahrensweisen | |
basiert. Aber ich arbeite zusammen mit anderen Menschen und schaue mir | |
Analog-Instrumente an, um zu erforschen, wie dabei Klangmuster generiert | |
werden.“ | |
## Unvorhersehbares Spiel | |
Nach Berlin kommt Fell, um beim Festival „Aggregate“ in der | |
Gedächtniskirche eine Auftragskomposition zu präsentieren. Dort befindet | |
sich eine digital gesteuerte „Hyperorgel“, deren automatische | |
MIDI-Einstellung Fell jedoch erst mal ignoriert. „Meine Idee ist, zwei | |
Musiker:Innen dazu zu bringen, auf dieser Orgel möglichst maschinell zu | |
spielen. Was bei Computern exakt programmierbar ist, haut bei Menschen | |
nicht hin, ihr Spiel bleibt unvorhersehbar. Diese Unvorhersehbarkeit nutze | |
ich ästhetisch.“ | |
Angst vor Technologie? Es geht Mark Fell darum, dass Technologie als | |
konstituierend für den Alltag im 21. Jahrhundert wahrgenommen wird. Er | |
sieht zwischen Kreativität und Technisierung keinen Gegensatz. Ob zu Hause | |
oder im Büro, wir sind umgeben von Technologie. Und trotzdem verschwindet | |
Technik oft hinter einem „konzeptuellen“ Sichtschutz und wird in Gehäusen | |
und Rechnerräumen verborgen. | |
„Eine Unterscheidung zwischen Kultur und Technologie macht doch gar keinen | |
Sinn. Oft heißt es, Technologie diene Kunst und Kreativität, das finde ich | |
problematisch. Ich verstehe Kreativität so, dass sie in die technisierte | |
Welt eingebettet ist und sich darauf aktiv bezieht. In der Technologie | |
werden neue Ideen begründet, das ist mehr, als sie nur darzustellen. Die | |
technologische Umgebung ist zugleich die kognitive Umgebung.“ | |
Mit Berlin verbindet Mark Fell eine spezielle Geschichte. Für die | |
Musiksoftware-Firma Native Instruments und seinen Kumpel [3][Erik Wiegand] | |
(alias Errorsmith, Teil des Duos MMM) hat er Presets designt. Diese wurden | |
zwar abgelehnt, Fell hat sie dann für das Album „Manitutshu“ verwendet, | |
extrem schlaue Housemusic. | |
Und dann erzählt Mark Fell der taz noch eine Anekdote, die unterstreicht, | |
dass die vielbeschworene Achse Detroit-Berlin um die Koordinate Sheffield | |
erweitert werden muss. „Als Housesound um 1987 aus Chicago und Detroit nach | |
Großbritannien spülte, wurde das Versprechen von Industrial Music als | |
ekstatische psychedelische Tanzmusik eingelöst. Robert Barker von der | |
Industrial-Band Clock DVA aus Sheffield hat für [4][Dimitri Hegemann] in | |
Berlin Tapes mit House aufgenommen.“ | |
10 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /20-Jahre-Raster-Noton/!5299123 | |
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[3] /Neue-Musik-aus-Berlin/!5809342 | |
[4] /25-Jahre-Tresor-in-Berlin/!5282939 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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