Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Scheinreferenden in der Ostukraine: Eine Region soll entführt werd…
> Im Gebiet Cherson werden immer wieder Ukrainer verschleppt. Mit einem
> Scheinreferendum will Russland hier ab Freitag die Einnahme besiegeln.
Bild: Luhansk am 22. September
Zhanna Kiseljowa, Redakteurin der Lokalzeitung Kachowska Zorja und
Abgeordnete des Stadtrates von Kachowka wurde am 19. September von
russischen Soldaten aus ihrer Wohnung entführt. Mit ihr zusammen verschwand
Iryna Razumey, Lehrerin der örtlichen Grundschule. Kachowka, eine Stadt mit
einst 50.000 Einwohnern, liegt etwa 90 Kilometer östlich von [1][Cherson,
im gleichnamigen, seit März von russischen Truppen besetzen Gebiet.]
Nun will Russland hier weiter Fakten schaffen: Von Freitag bis Dienstag
wollen die Besatzer ein sogenanntes „Referendum“ über den „Anschluss“ …
Chersoner Gebietes an die Russische Föderation abhalten. Doch die
überwiegende Mehrheit der Einheimischen, von einigen wenigen
Kollaborateuren abgesehen, will von Russland nichts wissen.
Die Entführungen von Lehrern, Ärzten, Abgeordneten, Journalisten,
Aktivisten und Staatsbeamten, aber auch von „Zufallsopfern“, hatte hier
zuletzt wieder zugenommen. Die Verschleppungen hatten aber schon in den
ersten Okkupationswochen begonnen. Auch ich selbst gehörte zu den Opfern
der Russen: Vom 12. bis zum 20. März wurde ich in Nowa Kachowka und Cherson
rechtswidrig und ohne Anklage gefangen gehalten und gefoltert.
Nach meiner Freilassung konnte ich in ukrainisch kontrolliertes Gebiet
entkommen und dort wieder als Journalist arbeiten. Seitdem arbeite ich auch
in dem Team von „The Reckoning Project: Ukraine Testifies“, einer
Organisation, die Zeugenaussagen von Opfern der russischen Besatzer sammelt
und dokumentiert.
## Viele Menschen fliehen
Für den Zeitraum vom 24. Februar bis zum 20. September haben wir allein in
einem einzigen Stadtviertel von Kachowka das Verschwinden von 111
Zivilisten dokumentiert. Die realen Zahlen sind aber weitaus höher. Viele
Angehörige von verschwundenen oder inhaftierten Opfern der russischen
Besatzer wollen nicht einmal mit Menschenrechtlern oder mit der Polizei
darüber sprechen. Aber von den überfüllten Zellen und Folterkammern
erzählen viele derer, die das selbst durchgestanden haben.
Einige ihrer Opfer haben die Russen zu Tode geprügelt. „Anfang September
kamen aus einer Folterkammer auf dem linken Dnipro-Ufer des Gebietes
Cherson unerwartet Zivilisten frei. Es stellte sich heraus, dass am
Vorabend einer der Männer in Folge der Folter einen Herzstillstand erlitten
hatte. Die Soldaten gerieten in Panik und versuchten, die Spuren ihrer
Verbrechen zu vertuschen. Die Leiche des Mannes haben sie vermutlich im
Dnipro versenkt, wie sie es schon mit anderen getan hatten“, erzählt ein
Angehöriger eines ehemaligen Gefangenen aus der Region Kachowka.
Das massenhafte Verschwinden von Menschen, der permanente Beschuss von
Wohngebieten durch die russische Armee und die Lagerung von Waffen und
Munition in zivilen Gebäuden hat viele Einwohner des Gebietes Cherson zur
Flucht auf ukrainisch kontrolliertes Territorium gezwungen. Sie tun das auf
eigenes Risiko, weil die Besatzer seit Kriegsbeginn keinen einzigen
sicheren Fluchtkorridor zugelassen haben.
Die meisten von ihnen können nicht mehr als ein, zwei Taschen mitnehmen.
Häufig werden ihnen an den russischen Checkpoints dann noch Geld und
Lebensmittel abgenommen.
## Die Betriebe in der Region stehen still
„Ich wollte meine Heimatstadt nicht verlassen. Aber es gab einen Moment, in
dem ich begriff, dass es zu gefährlich sei zu bleiben. Bei uns sind vor
allem alte Menschen und viele, sehr viele russische Soldaten geblieben.
Dort fallen jüngere Menschen wie ich dann gleich besonders auf. Früher oder
später hätten sie mich geschnappt und in den Keller gesteckt“, erzählt der
50-jährige Juri aus Nowa Kachowka. Er hat das Gebiet Cherson im August
verlassen.
Bis zuletzt blieb eine Rentnerfamilie in Nowa Kachowka, die ihren Namen
nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie entschieden sich erst zur Flucht,
als russische Soldaten Waffen und Munition in den Keller ihres
mehrstöckigen Wohnhauses brachten. „Da haben wir begriffen, dass man uns
einfach in die Luft sprengen kann. Denn Munition kann explodieren, und sich
darauf zu verlassen, dass die Russen irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen
ergreifen, wäre schlicht naiv“, sagten die Rentner bei ihrer Flucht Anfang
September.
Nach Angaben von Wolodymyr Kowalenko, Bürgermeister von Nowa Kachowka, sind
aus der 50.000-Einwohner-Stadt bereits 65 Prozent der Einwohner geflohen.
In Cherson lebt von den früher 300.000 Menschen noch etwa ein Drittel dort,
so die amtierende Bürgermeisterin Halyna Lugowa. Und die Kleinstadt Hola
Prystan haben nach Angaben der Bürgermeisterin Switlana Lynnik etwa 85
Prozent der früheren Einwohner verlassen.
Ununterbrochen verlassen Menschen das Chersoner Gebiet, unter ihnen sind
Ärzte, Lehrer und andere Fachleute. Deshalb gibt es in dem von Russland
kontrollierten Süden der Ukraine Probleme mit der medizinischen Versorgung.
Fast alle Betriebe stehen still, die Menschen haben ihre Jobs verloren. Es
sind Fälle von schwerkranken Menschen bekannt, die sich aufgrund
nichtverfügbarer Medikamente das Leben genommen haben.
Diejenigen, die noch im besetzten Gebiet Cherson geblieben sind, leben in
ständiger Angst. Der Beschuss von Wohngebieten, Raubüberfälle und Terror
durch die russische Armee sind dort an der Tagesordnung.
Die Einheimischen in der Region warten auf die ukrainischen Soldaten, die
Frieden in ihre Städte und Dörfer bringen könnten. Und sie hoffen, dass
keins der Verbrechen, das von den Okkupanten und ihren freiwilligen
„Helfern“ vor Ort begangen wurde, ungestraft bleiben wird.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
23 Sep 2022
## LINKS
[1] /Notizen-aus-dem-Krieg/!5866850
## AUTOREN
Oleh Baturin
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Referendum
Russland
Kriegsverbrechen
Donbass
GNS
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Leopard-Panzer
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Scheinreferenden vor Abschluss: Moskau droht wieder mit Atomwaffen
Der Kreml meldet erste Ergebnisse der Scheinreferenden in den Regionen
Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja. Putin könnte schon am Freitag
Anschluss der besetzten Gebiete an Russland verkünden.
Russische Scheinreferenden in der Ukraine: Erzwungene „Willensbekundung“
Im besetzten ukrainischen Cherson werden Fragebögen für das
Scheinreferendum über den Anschluss an Russland verteilt. Viele Bewohner
haben Angst.
+++ Krieg in der Ukraine +++: Schlangen an den Grenzübergängen
Grenzschützer in Finnland und Kasachstan melden erhöhtes Aufkommen aus
Russland. Der Kreml beklagt „Hysterie“ als Reaktion auf die Mobilmachung.
Debatte um Panzerlieferungen nach Kiew: Deutsche Irrtümer
Die deutsche Debatte um Lieferungen von Kampfpanzern an die Ukraine wird
mit vielen Emotionen geführt. Doch es fehlt strategischer Weitblick.
Teilmobilmachung in Russland: Putin schickt Reservisten los
Der Kreml hält an seinen Plänen von der Zerstörung der Ukraine fest. Die
Mobilmachung ist eine panische Antwort auf die militärischen Erfolge Kiews.
Putins Teilmobilisierung: Widerstand bei russischen Männern
Noch weiß keiner so genau, wie Putins Teilmobilisierung in Russland
ablaufen soll. Die ersten Männer fliehen ins Ausland, andere gehen auf die
Straße.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.