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# taz.de -- The-xx-Musiker Oliver Sim: Der unzuverlässige Erzähler
> Oliver Sim, Teil des Londoner Pop-Trios The xx, veröffentlicht mit
> „Hideous Bastard“ sein Soloalbumdebüt mit queeren Torchsongs.
Bild: Geht mit seinem Soloalbum inhaltlich neue Wege: Oliver Slim
I am ugly – ich bin hässlich, lauten die ersten Worte auf Oliver Sims
Debütsoloalbum „Hideous Bastard“. Im Vorfeld der Veröffentlichung feierte
ein Promotion-Kurzfilm in Cannes Premiere: Ein etwa 20-minütiger
XXL-Videoclip, in dem Regisseur Yann Gonzalez vier Songs des Werks
bebildert.
Einen Gastauftritt darin hat Jimmy Somerville, jener knabenhafte frühere
Sänger der Band Bronski Beat, die 1984 mit „Smalltown Boy“ die ultimative
Befreiungshymne nicht nur für junge schwule Männer veröffentlicht hat. In
Oliver Sims Film tritt Somerville in einer Mönchskutte aus braunem Latex
auf, Gesicht und Glatze mit silbernem Glitzer geschminkt, eine Art lebende
Discokugel, eine Lichtgestalt.
Somerville singt in seinem Falsett die erlösenden Worte: „Sei mutig. Hab
Vertrauen. Sei bereit, geliebt zu werden.“ Und Oliver Sim singt zurück:
„Seit ich 17 bin, lebe ich mit HIV. Bin ich abstoßend?“
„Mein eigenes Album zu veröffentlichen und Reaktionen auf meine Musik zu
bekommen, bedeutet mir eine Menge“, erklärt Sim der taz. „Aber die Arbeit
daran war schon ein großer Teil des Heilungsprozesses. Die Songtexte
handeln von Scham und Angst, die dazu geführt haben, dass ich mich
versteckt habe. Dass ich einen Song wie ‚Hideous‘ gemacht habe, hat so
viele Gespräche angestoßen, die ich dringend gebraucht habe. Körperlich
merke ich kaum, dass ich HIV habe, die Infektion hat aber zu schweren
psychischen Nebenwirkungen geführt.“
## Er ist nicht hässlich
Oliver Sim sitzt beim Zoom-Interview in einem Berliner Hotelzimmer. Er
trägt einen übergroßen Anzug, ein weit offenes gestreiftes Hemd, beides ein
reizvoller Kontrast zu seinem knochigen Körper. Das Gesicht mit den großen
braunen Augen wirkt offen, der große Mund lächelt viel. Von Angst oder
Scham ist nichts zu spüren, und unwillkürlich schleicht sich der Gedanke
ein: Wie kann dieser Popstar sich ernsthaft fragen, ob er hässlich ist.
„Im Song ‚Fruit‘ singe ich ‚you can dress it away, talk it away‘. Ich…
festgestellt, dass ich mit einer anderen Stimme spreche, je nachdem, wo ich
bin und mit wem. Wenn ich zum Beispiel im Taxi fahre, spreche ich mit
tieferer Stimme und lasse alles weg, was an meiner Stimme irgendwie schwul
klingt. Ein kleines Detail, aber ich sende mir selbst in diesem Moment das
Signal: Es ist nicht okay, so zu sein, wie ich bin.“
Auch im Kurzfilm, dessen Rahmenhandlung eine Talkshow ist, singt er den
Synthie-Popsong so, dass er dabei seine Croonerqualitäten voll auslebt. Im
Film sehen wir einen kleinen Jungen, der sich das im Fernsehen anschaut.
Als seine Mutter reinkommt, sagt er zu ihr: „Schau mal, das bin ich.“ Am
Ende gibt es einen Zungenkuss mit dem Talkshow-Host, dargestellt vom
Schauspieler Fehinti Balogun.
„Viele von diesen zwanghaften Verhaltensweisen, mit denen ich heute auf die
Umwelt reagiere, kommen aus meiner Kindheit“, hat Sim wenig überraschend
festgestellt. Aber wie er diesen Film benutzt, um eine Botschaft an sein
früheres Ich zu senden, ist berührend. Der Junge im Pyjama strahlt mit dem
Fernseher um die Wette, wenn sich die Lippen der beiden Männer berühren.
„Hätte ich diesen Kuss als Kind im Fernsehen gesehen, er hätte mir soo viel
bedeutet. So etwas hätte meine Fantasie für Monate beschäftigt.“
## Weibliche Vorbilder im TV
Der junge Oliver musste viel Fernsehen schauen in den neunziger Jahren, um
etwas zu finden, das ihm Orientierung gab. Er hat vor allem weibliche
Vorbilder gefunden, wie Sigourney Weaver in „Alien“, Jamie Lee Curtis in
„Halloween“ und die TV-Serie „Buffy the Vampire Slayer“. „Sie waren s…
und feminin, aber: wütend! Wütend und stark, eine Kombination, die ich nur
selten bei Männern erlebt habe. So wollte ich auch sein.“
Wütend klingt Sim auf „Hideous Bastard“ nicht. Er hat das Album komplett
mit seinem Bandkollegen und guten Freund [1][Jamie xx] produziert. Viele
Songs klingen darum auch ähnlich fragmentiert wie die Musik von The xx: die
Beats und der Gesang verspielt hüpfend, und auch die Stimmung insgesamt
düster und nächtlich.
Aber wo The xx immer etwas kalt und kratzig klingen, sind die Songs von
Oliver Sim warm und leicht wie eine Daunendecke, getragen von einem großen
Soundbett, das zu einem bis in die letzte Körperpore zu dringen scheint.
Als Sänger lebt sich Sim hier, ohne Romy Madley Croft als Duettpartnerin,
in allen Tonhöhen aus. Manchmal pitcht er seine Stimme künstlich in Tiefen,
dass es schon wieder eine Parodie von Männlichkeit darstellt.
Nach Dancefloor schreien nur wenige Stücke, wie „Romance with a Memory“ –
dabei gehören diese Bekenntnis-Songs unbedingt in die Clubs. Einige
Dance-Remixe sind aber schon veröffentlicht. Ansonsten beeindruckt, wie
sehr sich [2][Jamie xx] hier in den Dienst seines Freundes und Bandkollegen
gestellt und vielschichtige, fast expressionistische anmutende
Themengemälde geschaffen hat. Es gibt jede Menge zu entdecken, während man
sich von dem über weite Strecken betörend ultracleanen Sound von The xx in
andere Sphären tragen lässt.
## Neue Welten betreten
Dabei erstaunt doch sehr, dass Sim über 30 werden musste, um sein eigenes
Projekt zu verwirklichen. Vor allem auch inhaltlich betritt er hier Welten,
die bei The xx kaum eine Rolle spielen, im Leben von Sim dafür umso mehr:
queere Erfahrungswelten, Horrorfilme, Softpop wie der von den Beach Boys,
von denen sich Sim ein Harmoniegesang-Sample, das er in seinem Song „GMT“
nutzt, einiges hat kosten lassen.
„Die Zusammenarbeit war eine ganz andere als bei The xx, wo wir alles
gemeinsam entscheiden. Jamie hat sich wirklich auf meine Klangwelt
eingelassen, das finde ich extrem großzügig und cool von ihm.“
So offenherzig Oliver Sim im Gespräch ist, so intim seine Bekenntnis-Songs
klingen, bleibt doch ein Bruch in alldem. Im Kurzfilm verwandelt sich Sim
in eine Bestie, was in einer B-Movie-Horror-Persiflage kulminiert. Auch
Wortwitze haben Platz, aus „The Beauty and the Beast“ wird „The Beauty and
the Fist“, gefolgt von einer angedeuteten Fistfuck-Szene. Die Beichte kommt
nicht ohne das hinterhergesetzte „vielleicht meine ich das auch alles ganz
anders“ aus. Deshalb hat Sim auch an fünfter Stelle der zehn Songs das
Stück „The Unreliable Narrator“ gesetzt.
„Der unzuverlässige Erzähler, das bin ich selbst. Der Song ist von einer
Szene aus der Verfilmung von ‚American Psycho‘ inspiriert. Während der
Protagonist Patrick Bateman seine morgendliche Gesichtspflege verrichtet,
hält er einen Monolog über die menschliche Fassade, über unsere
Maskenhaftigkeit. Er spricht: ‚Schütteln Sie meine Hand, sie ist warm und
es fühlt sich an, als sei ich es, aber ich bin in Wirklichkeit gar nicht
da.‘“
## Sich mit dem Psychopathen identifizieren
Als Sim dann noch hinterherschiebt, er sei kein Psychopath, könne sich aber
mit dieser Figur durchaus identifizieren, muss er darüber lachen. „Der Song
stellt den Wendepunkt dar, bevor man die Platte umdreht. Und das hat
natürlich etwas Psychotisches, mitten auf dem Album plötzlich von sich zu
sagen, dass man als Erzähler unzuverlässig ist. Nicht dass ich ein Lügner
wäre, aber es war mir doch wichtig, an einer Stelle anzumerken, dass meine
eigene Version der Geschichte ein bisschen verzerrt sein könnte.“
Darum betont Sim auch, dass er sein HIV-Outing nur für sich selbst
betrieben hat und niemanden dazu auffordern will, es ihm gleichzutun.
Möchte er nicht wenigstens Menschen dazu anspornen, sich zu öffnen, die
Maske abzulegen?
„Oh Gott, ich glaube, ich eigne mich schlecht als Lebensberater, das machen
schon zu viele andere Musiker*innen. Ich habe Songs über Scham und Angst
komponiert, aber ich empfinde immer noch viel von beidem, ich bin lange
noch nicht am Ende meines Wegs. Der einzige Rat, den ich geben kann: Frag
nicht den unzuverlässigen Erzähler um Rat.“
15 Sep 2022
## LINKS
[1] /The-xx-mit-neuem-Album/!5373875
[2] /Album-des-britischen-Popstars-Jamie-xx/!5201379
## AUTOREN
Dirk Schneider
## TAGS
Synthie-Pop
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