# taz.de -- Trauerfeier für Michail Gorbatschow: Und alle sind still | |
> Es ist ein leiser Abschied, ohne Pomp, aber mit viel Würde. Michail | |
> Gorbatschows Beerdigung wird für die Trauernden zu einem Ort der freien | |
> Rede. | |
Bild: Seine Politik hat das Leben vieler Menschen geprägt: Michail Gorbatschow | |
Moskau taz | Jekaterina hat zwei Rosen mitgebracht. In dunkelrosa. Die | |
Blätter flattern im Wind. Vor bald 70 Jahren hat Jekaterina – der Nachname | |
spiele keine Rolle, sagt sie – schon einmal hier gestanden. Hinter sich das | |
Bolschoi-Theater, vor sich das Haus der Gewerkschaften mit dem Säulensaal, | |
in dem sowjetische wie russische hohe Funktionäre nach ihrem Tod aufgebahrt | |
werden, damit sich das Volk von ihnen verabschieden könne. | |
„Es waren Massen, alle in Schwarz, viele Milizionäre, irgendwelche | |
Generäle, Absperrungen überall, irgendjemand schrie“, erzählt Jekaterina, | |
als sie von einem Absperrgitter zum nächsten läuft. Und wartet, wartet, | |
wartet. Damals wurde sie hinter dem Zaun ihres Kindergartens mitten in | |
Moskau Zeugin der Beerdigung von Josef Stalin, dem sowjetischen Schlächter. | |
„Die Erzieherinnen hatten uns gesagt, dass an so einem wichtigen Tag | |
niemand uns abholen komme. Ich habe gezittert vor Angst.“ Nun, mit über 70 | |
Jahren, will sie freiwillig ins Gewerkschaftshaus. Will dem Mann danken, | |
mit dem das Leben, wie sie meint: „Schön und lustig und endlich frei | |
wurde“. [1][Michail Gorbatschow, der nach einer langen Krankheit am | |
vergangenen Dienstag gestorben] ist. Er wurde 91 Jahre alt. | |
Das offizielle Moskau gibt sich kühl. Kein Staatsbegräbnis, kein Trauertag. | |
Lediglich die Ehrengarde des Kremls steht bereit. Russlands Präsident | |
Wladimir Putin bleibt der „Panichida“ fern, wie die Totenmesse im | |
Russischen heißt. „Voller Terminkalender“, hatte der Kremlsprecher | |
ausrichten lassen. Putin verabschiedete sich stattdessen bereits am | |
Donnerstag im Moskauer Zentralkrankenhaus von dem Mann, dem er die | |
Verantwortung für die „größte geopolitische Katastrophe des 20. | |
Jahrhunderts“ gibt, wie Putin den Zerfall der Sowjetunion einst | |
bezeichnete. Sein Abschied wirkt wie eine Pflichtveranstaltung: Blumen | |
ablegen, kurz zum Foto schauen, die Hand an den Sarg legen. | |
Nach 40 Sekunden ist es vorbei. Sein Nachfolger und Vorgänger Dmitri | |
Medwedew kommt hingegen am Samstag vorbei und legt, bevor die wartenden | |
Frauen wie Männer Zutritt zum Säulensaal bekommen, Blumen am offenen Sarg | |
nieder. Aus Europa reist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban an. | |
Er geht zum Sarg, geht zu den Angehörigen – Gorbatschows Tochter Irina | |
sitzt im Saal, sowie die beiden Enkelinnen. Auch Dmitri Muratow, der | |
Chefredakteur der „Nowaja Gaseta“ und wie Gorbatschow | |
Friedensnobelpreisträger, ist bei der Beerdigung. | |
## Protest der Nichteinverstandenen | |
Es ist ein leiser Abschied ohne Pomp. Die Menschen stehen beharrlich an, | |
sie kommen ins Gespräch, wirken fast schon gelöst, dass so eine große | |
Ansammlung mitten in Moskau nicht von Spezialpolizisten | |
auseinandergetrieben wird. Es ist eine Art Protest der Nichteinverstandenen | |
mit dem Handeln ihrer Regierung. | |
„Der Tod Gorbatschows fällt mit dem Tod unserer Freiheit zusammen, unserer | |
Illusionen, dass wir ein einigermaßen normales Leben führen können“, sagt | |
Viktor Stepanow. „Russland ist zu einem in der Welt verhassten Land | |
geworden, was klar ist angesichts dessen, was wir in der Ukraine anstellen. | |
Wir dachten, Isolation und Drohungen sind längst Geschichte, wir waren | |
naiv.“ | |
Der 28-Jährige war noch nicht auf der Welt, als Gorbatschow 1985 | |
Generalsekretär der KPdSU wurde und mit seiner „Perestroika“ (Umbau) und | |
„Glasnost“ (Offenheit) den Sowjetbürger*innen die Angst zu nehmen | |
anfing. „Er und seine Reformen haben mein Verständnis von einem freien | |
Menschen geprägt. Er war trotz aller Fehler eine Ausnahmeerscheinung im | |
Kreml. Ich will ihm danken.“ Auch Jekaterina, die 76-jährige Restauratorin, | |
will sich verneigen vor Gorbatschow – und sich entschuldigen, weil „viele | |
von uns nicht begriffen haben, wie wichtig es ist, Bürger zu sein, und nun | |
in schrecklich dunkle Zeiten zurückfallen“. | |
## „Gorbatschow tot? Ach so“ | |
Gorbatschow, das sagen viele beim Warten vor dem Gewerkschaftshaus, habe | |
das Land verändert, das Stalinistische hinweggefegt und es doch nicht | |
geschafft, die Menschen mit der Freiheit, die er ihnen brachte, zu | |
versöhnen. Viele in Moskau und im ganzen Land wissen gar nicht, dass eine | |
historische Figur an diesem Samstag zu Grabe getragen wird. „Was ist denn | |
hier schon wieder los?“, fragen da manche Passant*innen, als sie die | |
Menschenschlangen sehen. „Gorbatschow tot? Ach so“, sagen sie beiläufig und | |
gehen weiter. | |
Im Säulensaal erklingt leise klassische Musik, eine Projektion von | |
Gorbatschow hängt an der Wand. Der einstige Generalsekretär hat da die | |
Hände zusammengefaltet, schaut offen und liebevoll großväterlich auf die | |
Menschen herunter, die ihre Nelken, Astern, Gladiolen ablegen. Manche | |
bleiben kurz stehen, bekreuzigen sich und laufen weiter über den Teppich | |
auf dem Parkettboden. | |
„Es war mir wichtig, persönlich, Ade' zu sagen“, sagt Anna. Sie wuchs in | |
der gleichen Region auf wie Gorbatschow und war um die 20 Jahre alt, als er | |
an die Macht kam. „Ich verstand wenig von seinen Reformen, ärgerte mich | |
natürlich über die leeren Regale und die Lebensmittelkarten“. | |
Im Nachhinein sehe sie die Zeit anders. „Wir konnten da, allen | |
Schwierigkeiten zum Trotz, frei atmen, durften kritisieren, uns versammeln. | |
Ja, später sogar ins Ausland reisen. Es war eine Aufbruchsstimmung.“ Heute | |
ginge alles den Bach runter: „Kritik führt zu Knast, über den Elefanten im | |
Raum reden wir leise in unseren Küchen, unsere Führung lügt und betrügt uns | |
offen.“ | |
## Tränen der verlorenen Freiheit | |
Gegenüber des Gewerkschaftshauses wird ein Theater renoviert. An der Plane | |
steht: „Zadatschu Vypolnim“ (Die Aufgabe werden wir erfüllen). Die | |
„Aufgabe“, die Putin am 24. Februar vorgegeben hat, lautet: Zerstörung der | |
Ukraine. Das Z und das V, diese Symbole des russischen Überfalls auf sein | |
Nachbarland, sind wie ein Schlag ins Gesicht des toten Gorbatschows und | |
aller Lebenden, die ihm hier die letzte Ehre erweisen wollen. „Es sind | |
dunkle Zeiten, sehr dunkle Zeiten“, sagt Jekaterina, die Restaurateurin. | |
Als der Sarg herausgetragen wird und im schwarzen Wagen zum Friedhof des | |
Neujungfrauenklosters gebracht wird, klatschen die Menschen auf der Straße. | |
„Danke“, rufen manche. Andere weinen. Es sind auch Tränen ihrer verlorenen | |
Freiheit. | |
Fast schon kitschig wirkt da der Regen, der just in dem Augenblick anfängt, | |
als Gorbatschows Sarg zum Grab neben seiner 1999 verstorbenen Frau Raissa | |
getragen wird. Das Blasorchester spielt einen Trauermarsch. Die Menschen | |
sind still. | |
3 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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