# taz.de -- Nachrufe auf Michail Gorbatschow: Der Mann fürs Große | |
> In Westeuropa sind viele Menschen dankbar für die Politik des gerade | |
> verstorbenen Michail Gorbatschow. Im Osten sieht man ihn deutlich | |
> kritischer. | |
Bild: Gorbatschow spricht im Januar 1990, ein Jahr vor dem Blutsonntag von Viln… | |
„Danke für den Frieden und unsere Freiheit, Gorbi!“ – solche Aussagen si… | |
am häufigsten im Westen, in Deutschland, zu hören, wenn es um Michail | |
Gorbatschow geht. Im Osten Europas hingegen sind andere Worte zu vernehmen. | |
Die Palette reicht vom „Buckligen (Gorbatij), der die Union ruiniert hat“ | |
über „Verräter!“ bis hin zu: „An seinen Händen klebt Blut!“ Diejenig… | |
den Zusammenbruch der Sowjetunion für eine geopolitische Katastrophe | |
halten, ein weit verbreitetes Narrativ in Russland, machen Gorbatschow | |
dafür verantwortlich. Es sei seine Politik gewesen, die zum Untergang der | |
größten Macht geführt habe. Andere sind sich sicher, es sei dem ersten und | |
letzten Präsidenten der UdSSR zu verdanken, dass nicht nur friedliche | |
Proteste in Vilnius, Tiflis, Alma-Ata und Baku brutal niedergeschlagen | |
wurden, sondern auch Kriege in Bergkarabach, Transnistrien, Abchasien und | |
Südossetien ausbrachen. Unsere vier Autor:innen zeichnen ein | |
differenziertes Bild. | |
## Ukraine: Er war Putins Mann | |
Für die osteuropäischen Länder, die nach dem Ende der Sowjetunion einen | |
demokratischen Weg eingeschlagen haben, ist es schwierig, die Begeisterung | |
für Gorbatschow zu teilen. Die Generation, die bereits in den unabhängigen | |
postsowjetischen Ländern aufgewachsen ist, sieht Gorbatschows einzige gute | |
Tat vielmehr darin, dass ein Pakt zur Auflösung der Sowjetunion | |
unterzeichnet wurde. | |
Doch dies wird nicht als sein guter Wille wahrgenommen, sondern als | |
erzwungener Schritt. Denn zu diesem Zeitpunkt konnte die Union in ihren | |
Grenzen und ihrer Verfasstheit nicht mehr existieren, weil das Projekt | |
nicht mehr lebensfähig war. Auch die Berliner Mauer fiel nicht durch den | |
Willen Gorbatschows, sondern weil Menschen unter Selbstaufopferung nach | |
Freiheit und Vereinigung strebten. | |
Für die Ukrainer*innen ist die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 und | |
ihre Vertuschung mit Gorbatschows Herrschaft verbunden. Besonders kritisch | |
wurde ihre Wahrnehmung jedoch 2014. Als Gorbatschow Russlands Annexion der | |
Krim unterstützte, war das, als ob den Menschen beim Anblick des | |
„Demokraten“ Gorbatschow ein Schleier vor den Augen weggezogen | |
wurde:“Welche Legitimität braucht es in Bezug auf die Krim? Mag das | |
Referendum auch durch Mängel gekennzeichnet gewesen sein, so haben die | |
Menschen dort zweifellos klar und unmissverständlich gesagt, dass sie Teil | |
Russlands sein wollen“, sagte er dem Spiegel im Januar 2015. Gorbatschow | |
weigerte sich, die Anwesenheit russischer Truppen im Donbass zur Kenntnis | |
zu nehmen. In allen seinen Kommentaren unterstützte er Wladimir Putins | |
Vorgehen in der Ukraine und forderte den Westen auf, alle Sanktionen gegen | |
Russland aufzuheben. | |
„Ich vertrete entschieden die Position, Russland zu verteidigen und damit | |
auch seinen Präsidenten Wladimir Putin. Ich bin absolut davon überzeugt, | |
dass Putin derzeit der beste ist, um für Russlands Interessen einzutreten.“ | |
Natürlich gebe es an Putins Politik genug zu kritisieren, doch daran werde | |
er sich nicht beteiligen, sagte Gorbatschow 2014 bei einer Gedenkfeier zum | |
Fall der Berliner Mauer. Zu diesem Zeitpunkt war die russische Invasion in | |
der Ukraine bereits neun Monate im Gange. | |
2022 äußerte sich Gorbatschow nicht öffentlich zu Russlands Angriffskrieg | |
in der Ukraine. Dennoch wird er den Ukrainer*innen nicht als Demokrat in | |
Erinnerung bleiben, sondern als jemand, der Putins Aggression unterstützt | |
hat. Anastasia Magasowa – Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
## Polen: Kein Demokrat, verdient aber Dankbarkeit | |
„Glasnost“ und „Perestroika“ – die Reformvorschläge des ehemaligen | |
Generalsekretärs der KPdSU und späteren Staatspräsidenten der Sowjetunion | |
Michail Gorbatschow, die im Westen mit großer Faszination und Hoffnung | |
aufgenommen wurden, verfingen in Polen nicht übermäßig. | |
Mitte der 80er Jahre kämpfte Polen noch immer mit den Folgen des | |
Kriegsrechts, das General Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 über das | |
Land verhängt hatte. Jaruzelski behauptete, dass die Sowjets kurz vor dem | |
Einmarsch und schon an der Grenze stünden, da die Friedens- und | |
Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc das Land unregierbar mache und die | |
Versorgungslage der Bevölkerung gefährde. | |
Das Misstrauen gegenüber „den Russen“ saß tief. Während die eigenen | |
polnischen Reformversuche des Sozialismus „von unten“ damit endeten, dass | |
tausende Solidarnosc-Anhänger für Jahre in Gefängnissen und | |
Internierungslagern landeten, wollte Gorbatschow den Sozialismus „von oben“ | |
reformieren. | |
„Er hatte vielleicht einen demokratischen Instinkt, aber er war kein | |
Demokrat, kannte die Demokratie nicht und verstand sie auch nicht“, | |
kommentiert Polens Ex-Präsident Aleksander Kwasniewski den Tod | |
Gorbatschows. „Aber er hatte einen guten Willen, glaubte an die Mitwirkung | |
der „sowjetischen Bürger“ am politischen System und brachte mit seiner | |
Perestroika einen Prozess ins Rollen, der bald nicht mehr aufzuhalten war.“ | |
Es gebe Länder, die ihm ganz besonders dankbar sein sollten, so | |
Kwasniewski. „Das ist in erster Linie Deutschland. Ohne Gorbatschow hätte | |
es keine Wiedervereinigung gegeben, insbesondere wenn man bedenkt, dass | |
Thatcher und Mitterand dieser Idee äußerst skeptisch gegenüberstanden.“ | |
Doch auch die mittelosteuropäischen Länder sollten Gorbatschow dankbar | |
sein, dann er habe in seiner berühmten Rede vor der UNO ganz bewusst mit | |
der Doktrin Breschnews gebrochen, der zufolge die Sowjetarmee in alle | |
Satellitenstaaten einmarschieren konnte, wenn Moskau etwas nicht gefiel. | |
Anne Applebaum, Pulitzerpreisträgerin und Autorin etlicher Bücher zur | |
Geschichte Osteuropas, traf Gorbatschow zum letzten Mal am 9. November | |
2014, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin. Die Amerikanerin, die | |
privat die Ehefrau des polnischen Ex-Verteidigungs- und Außenministers | |
Radoslaw Sikorski ist, hält Gorbatschow für „eine Person, die wie kaum eine | |
andere die Epoche seiner Zeit prägte, sie zugleich aber kaum verstand.“ | |
Die Misswirtschaft und den immer sichtbareren Verfall des Sowjetsystems | |
habe Gorbatschow zunächst auf den hohen Alkoholkonsum der Sowjetbürger | |
zurückgeführt, dann aber als tatsächliche Ursache die obsessive | |
Geheimhaltung und Intransparenz in Partei und Staat erkannt. | |
„Aber als Partei-Apparatschik hat er nie die Wut in den okkupierten | |
Satelliten-Staaten Moskaus begriffen, die auch einen ‚Sozialismus mit | |
menschlichem Antlitz‘ strikt ablehnten. Am Ende ist er der Geschichte | |
hinterhergelaufen, die er doch eigentlich gestalten wollte“, so Anne | |
Applebaum. Gabriele Lesser | |
## Belarus: Die Gulags geöffnet, von den Gefangenen verflucht | |
Nie hätte ich gedacht, einmal damit zu prahlen, drei Leben gelebt zu haben: | |
ein sowjetisches, ein unabhängiges und eins unter Lukaschenko. | |
Meiner Kindheit in der UdSSR folgte eine revolutionäre Perestroika-Jugend. | |
Wir hatten das Glück, Unerlaubtes zu entdecken, keine Angst mehr zu haben, | |
Dinge laut zu sagen, selbständig zu denken, unabhängig von der „generellen | |
Parteilinie“. | |
Plötzlich erfuhren wir: wir müssen nicht mehr im Namen eines großen (und | |
unverständlichen) Zieles lebendig sterben. Wir können einfach leben, ohne | |
Angst vor Konsequenzen. Auf der Straße konnte man den echten „Wind of | |
Change“ einatmen: berauschend und voller Hoffnungen. Und ich glaubte, das | |
sei jetzt für immer so. So viel Freiheit gab es danach leider nie mehr. Und | |
wird es nie mehr geben. Es war eine Weltrevolution, die Verschiebung | |
tektonischer Platten, in dessen Spalten ein Reich, das sich für ewigwährend | |
hielt, hineingefallen war. Den unvergesslichen Wind von damals spüre ich | |
bis heute auf meinen Wangen. | |
Ich idealisiere Gorbatschow nicht. An seinen Händen klebte Blut, aus | |
Vilnius und Tiflis, Krebs aus Tschernobyl und die Armut der Menschen. Aber | |
dank ihm gab es eben auch den Fall der Berliner Mauer, den Abzug der | |
sowjetischen Truppen aus Osteuropa und Afghanistan, die Rückkehr des | |
Physikers Andrei Sacharow, die Zeitschrift Ogonjok mit hochkarätigen | |
Texten, die man las, bis die Hefte fast auseinanderfielen. Und die freche | |
Fernsehsendung „[1][Wsgljad]“ (dt. Ansicht, Meinung). | |
Andersdenkende wurden nicht mehr mit Gefängnis- oder | |
Psychiatrieaufenthalten bestraft. Die Freiheit des Wortes gab es nicht nur | |
in der eigenen Küche, sondern überall. Diejenigen, die Gorbatschow heute | |
„Mörder“ nennen, sollten begreifen, dass er auch (vielleicht unbewusst) | |
unsere Angst getötet hat, ihn so zu nennen. | |
Übrigens, für den Vorsitzenden einer kommunistischen Partei war er ein | |
echter Rock `n` Roller. Zum ersten Mal wussten alle von der Existenz einer | |
sowjetischen First Lady, die zuerst bewundert, später verflucht wurde. | |
Der erste Sowjetkongress wurde live im Fernsehen übertragen und die Leute | |
rannten nach Hause, um ihn sich anzusehen. Zum ersten Mal sahen sie, dass | |
nicht alles so klar und eindeutig war. Solche Einschaltquoten hatte nicht | |
mal „Game of Thrones“. Ein Freund von mir hat treffend gesagt: „Michail | |
Gorbatschow hat die die Tore des sowjetischen Gulags geöffnete und wurde | |
dafür von den Gefangenen verflucht.“ | |
Gorbatschow war ein „Herrscher“, der keine Superideen verkündete und selbst | |
keine Supermacht wollte. Seine Nachfahren machen heute alles genau | |
umgekehrt: Millionen Menschen für die Supermacht ermorden, einen Atomkrieg | |
entfesseln und einen neuen „Eisernen Vorhang“ fallen lassen. Janka Belarus | |
– Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
## Georgien: Er drückte sich vor der Verantwortung | |
Wer sagt, ihm oder ihr gefalle Michail Gorbatschow, macht sich in Georgien | |
nicht unbedingt Freunde. In der Südkaukasusrepublik hat der erste und | |
letzte Präsident der Sowjetunion Bewunder*innen, doch viele hassen ihn | |
auch. Auf die Frage, ob es nicht sein liberaler Ansatz gewesen sei, der den | |
Kampf um die Unabhängigkeit in Georgien habe aufflammen lassen, lautet die | |
Antwort: Er hat uns für diese Flamme bestraft und dabei ist Blut geflossen. | |
Im April 1989 forderten Zehntausende in der Hauptstadt Tiflis Georgiens | |
Austritt aus der UdSSR. Am 9. April, im Morgengrauen, lösten interne | |
Truppen und Fallschirmjäger der sowjetischen Armee die Kundgebung auf. | |
Gegen die friedliche Menge wurden Giftgas, Gummiknüppel, aber auch | |
„Pionierschaufeln“ eingesetzt – ein Werkzeug, mit dem Soldaten | |
Schützengräben ausheben. Während der Niederschlagung der Protestaktion | |
wurden mehr als 2000 Menschen verletzt, 21 starben. Das jüngste Opfer war | |
15 Jahre alt. | |
Bis heute ist nicht klar, welche Rolle Gorbatschow bei diesen Ereignissen | |
gespielt hat. Eine Ermittlungskommission befragte hunderte Personen – von | |
einfachen Soldaten bis hin zu einem Innenminister – nicht aber Gorbatschow. | |
1989 hatte er die Vorfälle in Tiflis als „Angriff auf die Perestroika“ | |
bezeichnet. In den folgenden Jahren sagte Gorbatschow immer wieder, sein | |
„Gewissen sei rein“, die Entscheidung zur Anwendung von Gewalt sei „hinter | |
seinem Rücken“ getroffen worden „Damals und auch später habe ich an meinem | |
Credo festgehalten: Die schwierigsten Probleme müssen mit politischen | |
Mitteln gelöst werden, ohne Gewaltanwendung, ohne Blutvergießen“, schrieb | |
er 2021. | |
Wer jedoch ist dann verantwortlich? Gorbatschow schob die Schuld der | |
Führung der Sowjetrepublik Georgien in die Schuhe, die nicht verstanden | |
habe, wie unter demokratischen Bedingungen gearbeitet werde“. Der damalige | |
erste KP-Sekretär, Dschumber Patiaschwili, versichert, dass der Präsident | |
den Befehl gegeben habe. In einem Interview sagte Patiaschwili, dass der | |
Generalsekretär ihm am Tag vor der Tragödie gesagt habe: „Wir müssen den | |
Platz sofort räumen lassen, die Armee wird sich darum kümmern!“ | |
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die Soldaten ihre Befugnisse | |
überschritten hätten und der Einsatz von Gewalt unverhältnismäßig gewesen | |
sei. Bestraft wurde jedoch niemand. Dies war der letzte Tropfen, der die | |
überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Georgiens angesichts von | |
Gorbatschows Reformen desillusionierte. Zwei Jahre später, 1991, fand in | |
Georgien ein Referendum statt, bei dem 98,9 Prozent für die Unabhängigkeit | |
stimmten. | |
Viele erinnern sich heute daran, dass die Volksabstimmung, die | |
Kundgebungen, ja überhaupt Kritik an der Sowjetmacht erst dank der | |
Liberalisierung unter Gorbatschow möglich wurden. Deshalb sind ihm viele | |
Georgier*innen – trotz aller Widersprüche – immer noch dankbar. Unter | |
ihnen ist auch Vano Merabischwili, der frühere Innenminister Georgiens. „Er | |
hat unserer Generation die Chance gegeben, in einer normalen europäischen | |
Gesellschaft zu leben und vollwertige Weltbürger zu werden, sagte er am | |
Mittwoch. Sandro Gvindadze – Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
3 Sep 2022 | |
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[1] https://tv-80.ru/informacionnye/vzglyad/ | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
Gabriele Lesser | |
Janka Belarus | |
Sandro Gvindadze | |
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