# taz.de -- Natur in der Sprache: Verlorene Worte | |
> Was passiert, wenn Wörter, die die Natur beschreiben, aus Wörterbüchern | |
> verschwinden? Wie können wir dann die Klimakrise begreifen? | |
Bild: In englischsprachigen Oxford-Junior-Wörterbüchern wurde das Wort „Bro… | |
Unsere Wahrnehmung der Welt ist von Sprache geprägt. Wir denken, sprechen | |
und träumen in Sprache. Wir brauchen Wörter, um darzustellen, was ist. | |
Deshalb ist es beunruhigend, wenn Wörter, die die Natur beschreiben, aus | |
den Wörterbüchern verschwinden. | |
Die englischsprachigen Oxford-Junior-Wörterbücher richten sich an Kinder ab | |
sieben Jahren. Welche Wörter im im jeweiligen Buch stehen, ändert sich von | |
Ausgabe zu Ausgabe. Seit 2007 wurden etwa die englischen Wörter für „Moos�… | |
„Brombeere“, „Blumenkohl“ und „Klee“ gestrichen. Dafür fügte der … | |
Wörter wie „Datenbank“, „Chatroom“ und „Breitband“ ein. | |
Die gestrichenen Worte bezeichnen Dinge, die wir sehen, schmecken oder | |
fühlen. Kinder und Erwachsene gleichermaßen füllen sie mit Wissen und | |
Fantasie. Brombeeren sind lecker, Blumenkohl sieht aus wie ein Gehirn, Moos | |
wächst am liebsten im Schatten. | |
Deshalb schrieb eine Gruppe bedeutender englischsprachiger | |
Schriftsteller:innen, wie etwa Margaret Atwood und Robert Macfarlane, | |
einen Protestbrief an Oxford University Press, das für die Wörterbücher | |
zuständige Verlagshaus. In dem Protestbrief äußerten die Unterzeichnenden | |
zwei Bedenken: Sie betonen einerseits, dass Natur und Kultur seit Anbeginn | |
der Menschheitsgeschichte verknüpft seien, doch vor allem geht es ihnen um | |
das Wohlbefinden von Kindern. Kinder bräuchten eine Beziehung zur Natur, | |
argumentieren die Autor:innen. Sprache, als vermittelndes Medium, sei dafür | |
essenziell. | |
Sie haben recht. Der britische Journalist Johann Hari beschreibt in „Stolen | |
Focus: Why You Can’t Pay Attention“(Gestohlene Aufmerksamkeit: Warum Sie | |
nicht aufpassen können), wie sich in westlichen Ländern die Kindheit von | |
draußen nach drinnen verlagert hat. Bereits 2003 spielten nur noch 10 | |
Prozent der Kinder in den USA regelmäßig draußen. | |
Wissenschaftler:innen erkennen mittlerweile einen Zusammenhang | |
zwischen Stubenhockerei und etwa Angstzuständen und abnehmender | |
Bewegungsfreude. Die körperliche Fitness von Kindern leidet jedenfalls | |
darunter: In Großbritannien nimmt sie jedes Jahrzehnt um 9 Prozentpunkte | |
ab. Fehlende Begriffe aus der Natur trügen dazu bei, diese Entfremdung noch | |
voranzutreiben, so die Autor:innen des Protestbriefs. | |
Wörterbücher reflektieren Sprache im Gebrauch, sagt das Verlagshaus zu den | |
Vorwürfen. Es gehe nicht darum, die Wörter auszuwählen, die man großartig | |
finde, sondern jene, die Kinder alltäglich benutzen. 2012 sprachen | |
britische Kinder eben häufiger von Chatrooms als von Blumenkohl. Oxford | |
University Press sieht die Wörterbücher als Realitätsabgleich und weist | |
einen normativen Auftrag von sich. | |
## Der offene Brief hat ein Problem in der Argumentation | |
Das Dilemma an der Debatte ist: Beide, Schriftsteller:innen und das | |
Verlagshaus, haben recht. Sprache schafft Realität, wie [1][Atwood] und | |
Macfarlane betonen, Realität schafft aber auch Sprache, wie Oxford | |
University Press argumentiert. Sprache und Realität beeinflussen sich | |
wechselseitig. | |
Mitte August rief mich ein Freund, der Forstwissenschaften studiert, aus | |
einem Wald im Berliner Umland an. Der Waldboden sehe aus wie im Herbst, | |
sagte er, gelb-braune Blätter bildeten einen dichten Teppich. Er erklärte | |
mir, dass es sich, anders als im Herbst, dabei aber um Trockenlaub handle. | |
Die Bäume bekämen nicht genug Wasser und müssten haushalten, deshalb würfen | |
sie einen Teil ihres Blattkleides ab. | |
Mein Freund vermittelte mir ein sprachlich konstruiertes Bild, das eine | |
emotionale Reaktion in mir auslöste. Ohne seine Worte zu verstehen – | |
Waldboden, Blattkleid, Eiche, Ulme – wäre ich dem Thema wohl mit mehr | |
Gleichgültigkeit begegnet. | |
Der britische Autor Robert Macfarlane antwortete Oxford University Press, | |
als der Verlag sein eigenes Vorgehen verteidigte, wie es ein Schriftsteller | |
eben tut: Er schrieb ein Buch. „Die verlorenen Worte“ erschien 2014 als | |
Versuch, die aus den Wörterbüchern gestrichenen Worte in das kollektive | |
Gedächtnis der Jüngsten zurückzuführen. Auf dem Buchrücken steht: „Was, | |
wenn die Wörter für die lebendige Natur unbemerkt aus der Sprache, den | |
Märchen und Geschichten, der Wirklichkeit verschwänden? (…) Dieses Buch ist | |
der Gegenzauber zu Beton, Feinstaub und Entfremdung.“ | |
„Die verlorenen Worte“ bezeichnen Tiere und Pflanzen, die aus den | |
Wörterbüchern gestrichen wurden. Die Worte sind vom Aussterben bedroht, wie | |
der Berggorilla oder der südchinesische Tiger. | |
Solange wir sie benutzen, trägt ihr Inhalt noch Bedeutung. Wenn wir | |
aufhören sie zu benennen, verschwindet das, was sie symbolisieren, aus | |
unserem kollektiven Gedächtnis. | |
Ein radikales Beispiel: Wenn es kein Wort für Wald mehr gäbe, gäbe es | |
keinen Wald mehr. Dann gäbe es zwar noch Bäume, Sträucher und Rehe, aber | |
eben keinen Wald. Die Geschichten, die durch den Begriff entstehen, | |
verschwänden. | |
Das ist die Debatte, die in Großbritannien schon stattfindet. Die | |
problematische Entwicklung ist in Deutschland die gleiche. Auch hier | |
verschwinden Wörter, die die Natur beschreiben, aus dem alltäglichen | |
Sprachgebrauch. Es gibt zwar vereinzelte deutschsprachige Artikel, in denen | |
sich meist ältere Menschen über den Naturanalphabetismus der Jugend | |
beschweren, aber kein populäres Projekt wie „Die verlorenen Worte“, keinen | |
öffentlichen Aufschrei berühmter Personen wie in dem Protestbrief. | |
Apropos: Ich habe ein Problem mit der Argumentation der Autor:innen des | |
Protestbriefs. Es geht ihnen nicht ausschließlich um das Wohlbefinden von | |
Kindern. Mit der Argumentation einher geht ein erzieherischer, | |
konservativer Auftrag, der bewusste oder unbewusste Versuch, eine | |
gesellschaftliche Erinnerung zu formulieren. Möchten die Autor:innen | |
nicht eigentlich in Erinnerungen schwelgen, etwa die eigenen | |
Kindheitserlebnisse glorifizieren? | |
## Für die „Generation Klima“ ist die Natur cooler | |
Macfarlane und Atwood schreiben gleich zu Beginn des Protestbriefs: „Dies | |
ist nicht nur ein romantischer Wunsch, die rosigen Erinnerungen an unsere | |
eigene Kindheit auf die heutige Jugend zu übertragen.“ Ein „nicht nur“ | |
beinhaltet immer ein „sondern auch“. An späterer Stelle im Brief sprechen | |
die Autor:innen von der „einsamen, in geschlossenen Räumen | |
stattfindenden Kindheit von heute“. | |
Die 27 Unterzeichnenden, deren Alter öffentlich bekannt ist, sind im | |
Schnitt 65,5 Jahre alt. Die jüngste Kunstschaffende, die dem Ruf der Alten | |
folgte, ist 42 Jahre alt. Keine:r der Autor:innen erlebte die „einsame“ | |
Kindheit, die sie kritisieren, selbst. Der sprachliche Protest trägt, nicht | |
ausschließlich, aber eben zum Teil, die Ausdrucksform [2][„Früher war alles | |
besser“]. | |
Dabei ist der sprachliche Wandel Ausdruck einer sich verändernden | |
Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der viele Menschen weniger | |
Berührungspunkte zur Natur haben. Die Uhr zurückzudrehen ist unmöglich. | |
Kinder wachsen heute anders auf als früher. Eine rückwärtsgewandte, von | |
Nostalgie und Romantik geprägte Debatte ist nicht zielführend. | |
Der sprachliche Wandel, sichtbar durch die Wörterbücher, sollte weder als | |
Realitätsabgleich noch als Aufruf zum Bewahren einer früheren, besseren | |
Zeit verstanden werden, sondern als Symptom. Die englischsprachigen | |
Autor:innen erkennen diese Sichtweise an, möchten im Prinzip genau das, | |
untermauern es aber mit Erinnerungen anstelle von Lösungsvorschlägen. | |
Die aussterbenden Wörter sind ein Symptom des gesellschaftlichen Wandels, | |
und nicht die Ursache, denn die Wiederaufnahme der verlorenen Wörter würde | |
nicht von sich aus zu einer gesünderen Beziehung von Kindern zur Natur | |
führen. Dafür braucht es mehr. Weil Sprache eben nicht nur Realität | |
schafft, sondern Realität auch Sprache. | |
Es bräuchte etwa mehr Natur in den Großstädten, und zwar nicht nur in den | |
wohlhabenden Gegenden, und mehr Naturvielfalt auf dem Land. Es bräuchte | |
mehr Zeit und weniger Stress, sodass Natur auch genossen werden kann. Es | |
bräuchte aber vor allem wirksame klimapolitische Maßnahmen, damit nicht | |
das, was jetzt noch existiert, visuell verloren geht, schon bevor es | |
sprachlich verschwindet. | |
Die gute Nachricht: Wir sind gesellschaftlich, wenn schon nicht politisch, | |
auf einem vielversprechenden Weg. Dank „Generation Klima“, also den | |
[3][Gen-Y]- und Gen-Z-lern, ist Natur für viele junge Menschen wieder ein | |
bisschen cooler. Das großstädtische, chauvinistische Bild von Naturburschen | |
als langbärtige und unmodische Provinzler hat ausgedient. Angesichts der | |
Klimakrise ist Klimawissen wertvoller geworden. Und dazu zählen eben auch | |
die richtigen Worte. | |
8 Sep 2022 | |
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