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# taz.de -- Baerbocks und andere Ausrutscher: Egal, was die Leser*innen denken
> Vorausschauen ist eine Kunst, die klappt, wenn Selbstbild und Realität
> nicht zu weit auseinander klaffen. Das musste auch die Außenministerin
> lernen.
Bild: Ausrutscher und Fettnäpfchen sind Banane
Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich
zu wenig vorausschauend. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt, denn zuweilen
klaffen Selbstbild und Realität auf irritierende Weise auseinander. Jüngst
etwa auf der griechischen Insel Korfu, als wir mit einem Boot zu den Höhlen
und Buchten tuckerten, die nur vom Meer aus zugänglich sind.
Kaum war der Anker geworfen, schon hüpfte die taucherbebrillte
Minderjährige ins Wasser. Ich hinterher, gierig nach der prächtigen
Unterwasserwelt. Doch nachdem Meereshöhle und Bucht ausgiebig beschnorchelt
wurden, stellte sich eine unangenehme Frage: Wie soll frau bloß zurück aufs
Boot kommen?
Zum Glück entdeckten wir eine sehr schlichte Leiter zum ausklappen. Der
untersten Stufe fehlte allerdings die kleine Holzplanke, hier war nur noch
das nackte, rutschige Metallrohr vorhanden. Die Minderjährige schwang sich
dennoch so behände aufs Boot [1][wie Winnetou auf seinen Rappen Iltschi].
Ich dagegen, nun ja, es wurde so kafkaesk wie die Grundsatzrede von
Bundeskanzler [2][Olaf Scholz diese Woche in Prag]. Es ergaben sich viele
Fragen, aber keine Lösungen. Rutsch und platsch in endloser Folge,
interessiert beobachtet von anderen Booten und begleitet vom unterdrückten
Prusten der Minderjährigen sowie der Niederländerin, die zu unserer
Reisegemeinschaft gehört.
Kurz kam der Gedanke auf, die paar Kilometer zurück zum Anleger zu
schwimmen. Aber meine Begleiterinnen entschieden, es erst einmal mit
schieben, ziehen und lautem „Hauruck“ zu versuchen. Trotzdem: rutsch und
platsch. Den Durchbruch brachte schließlich und endlich ein Taucherschuh
mit Antirutschsohle aus den Tiefen meiner Strandtasche. Mein Selbstbild
ist, ähm, leicht beschädigt.
So etwas könnte Außenministerin Annalena Baerbock nie passieren. Sie sieht
sich als eloquente Rednerin, die Politik herausragend erklären kann und
Englisch mit nahezu muttersprachlicher Kompetenz beherrscht. Das erinnert
zwar eigentlich an ein anderes Mitglied der Bundesregierung, aber egal,
nichts würde Baerbock von ihrem Selbstbild abbringen.
Diese Woche also sprach sie auf dem Forum 2000 in Prag. Wohlwollend
zusammengefasst sagte sie Folgendes: Gemäß ihrer Prinzipien steht sie in
diesem Angriffskrieg felsenfest zur Ukraine und zu den Sanktionen gegen
Russland. Putins Kalkül, Deutschland mit seinen Energiewaffen zu spalten,
gehe nicht auf. Die sozialen Härten in der Energiekrise werde man abfedern
statt die eigenen Prinzipien zu verraten und die Sanktionen abzuschaffen,
um den Wähler*innen zu gefallen.
Sehr richtig und einer deutschen Außenministerin würdig. [3][Doch es fiel
auch dieser Satz: „Ich werde dieses Versprechen (die Ukraine zu
unterstützen) einhalten. Egal, was meine deutschen Wähler denken.“] Sahra
Wagenknecht (die Linke) und Alice Weidel (AfD) gerieten gleichermaßen in
Wallung ob des Verrats am deutschen Volke. #Amtseid und #BaerbockRücktritt
trendeten alsbald auf Twitter. Die grünen Scharfschützen brachten sich in
Stellung und [4][bis ins konservative Lager hinein wurden
Pro-Baerbock-Tweets abgefeuert.] Fake News! Desinformationskampagne!
Und es stimmt ja, dass die Baerbock-Gegner die Außenministerin bewusst
missverstehen wollten. Doch zur Wahrheit gehört auch: Dieser Egal-Satz war
sehr, sehr unglücklich und wenig vorausschauend formuliert. Er hätte so
nicht fallen dürfen, nicht auf Englisch und auch nicht auf Deutsch. Egal,
was meine Leser*innen jetzt denken.
Der Minderjährigen ist auch sehr häufig egal, was ich denke. Ich denke zum
Beispiel, dass es komisch ist, dass sie sich immer zur zweiten Pause kurz
vor dem freitäglichen Sportunterricht unpässlich fühlt. Oder ich denke,
dass sie eigentlich keine neue Klamotten braucht und vier Paar Sneakers
ebenfalls ausreichen.
Aber ich schweige, weil ich neuerdings sehr übe, mich vorausschauend zu
verhalten. Schließlich soll man auch in jungen Jahren an das Alter denken.
[5][Die meisten pflegebedürftigen Menschen werden inzwischen ja zu Hause
gepflegt]. Von ihren Angehörigen.
3 Sep 2022
## LINKS
[1] /Debatte-ueber-Winnetou/!5874868
[2] /Tschechiens-Regierung-in-der-Krise/!5878533
[3] https://twitter.com/SLagodinsky/status/1565567857991237638
[4] https://twitter.com/PrienKarin/status/1565354338259648514
[5] https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Hinterg…
## AUTOREN
Silke Mertins
## TAGS
Kolumne Der rote Faden
Annalena Baerbock
Olaf Scholz
Altenpflege
Sanktionen
Annalena Baerbock
Schwerpunkt Armut
Tschechien
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