# taz.de -- Inflation und Preise: „Das Hirn hat es mit Preisen schwer“ | |
> Neurowissenschaftler Kai-Markus Müller erklärt, warum Preise eine | |
> Placebowirkung haben und teuer manchmal besser ist. | |
Bild: Wie preiswert ist „billig“? | |
taz am wochenende: Herr Müller, was ist ein guter Preis? | |
Kai-Markus Müller: Das hängt davon ab, wer man ist: Für einen Unternehmer | |
ist ein guter Preis einer, der den Kunden langfristig an das Produkt bindet | |
und ausreichend oder guten Profit bringt. Aus Kundensicht ist das | |
vielschichtiger. | |
Und zwar? | |
Ökonomisch gesehen gibt es die Konsumentenrente. Das ist die Differenz | |
zwischen dem Wert, den ich dem Produkt beimesse, und dem, was ich bezahle. | |
Wenn ich hier also meinen Tee habe und finde, der ist einen Euro wert und | |
ich musste aber nur 60 Cent bezahlen, dann habe ich eine Konsumentenrente | |
von 40 Cent. Je höher die Rente, desto wahrscheinlicher ein Kauf. | |
Wie kommen wir überhaupt dazu, einen bestimmten Preis für ein Produkt als | |
angemessen zu empfinden? | |
Ein Preis ist zunächst immer eine willkürliche Assoziation zwischen einem | |
Produkt und einer Zahl. | |
Warum willkürlich? | |
Weil unser Gehirn überhaupt nicht für den Umgang mit Preisen gemacht ist. | |
Aus evolutionsbiologischer Sicht brauchen wir das ja auch nicht: Wir | |
mussten schauen, ob wir genügend Leute sind, um ein Mammut zu jagen. Aber | |
wir hatten keinen Kontext, in dem wir ermitteln mussten, ob nun 2,12 Euro | |
angemessen sind für einen Liter Diesel oder doch eher 1,75 Euro. Preise | |
sind eine Kulturtechnik. Und bei solchen kulturellen Phänomenen ist es | |
immer so, dass unser Gehirn evolutionär weit hinterherhinkt, weil es keine | |
speziellen Hirnareale dafür gibt. Das Gehirn muss daher andere Areale | |
aktivieren, um für uns einen optimalen Preis herauszufinden. Daher gibt es | |
neben der Konsumentenrente als Indikator für einen guten Preis noch einen | |
weiteren wichtigen Faktor: die psychologische Komponente. Zum Beispiel weiß | |
man, dass eine Flasche Wein, die günstig verkauft wird, schlechter | |
schmeckt, als ein und derselbe Wein, wenn er teuer verkauft wird. | |
Woher weiß man das? | |
Das kann man im MRT sehen. Da schaut man sich die Hirnareale an, die aktiv | |
sind, wenn etwas gut schmeckt. Und diese Areale sind aktiver, wenn die | |
Probanden davon ausgehen, dass der Wein teurer ist. Es gibt andere | |
Untersuchungen, die das bestätigen. Zum Beispiel war die Wirksamkeit von | |
identischen Schmerzmitteln größer, wenn die Probanden annahmen, dass diese | |
teurer sind, im Vergleich zu vermeintlich billigeren. | |
Eine Placebowirkung von Preisen. | |
Ja, genau. Und deshalb kann man auch nicht bedingungslos sagen, dass für | |
die Konsumenten immer der niedrigere Preis der bessere ist. Denn wenn der | |
Geschmack oder die Wirkung eines Produktes besser ist, wenn der Preis höher | |
war, dann kann das ja auch durchaus im Sinne des Käufers sein. | |
Es gibt zudem haufenweise Marketingtricks, wie durchgestrichene | |
unverbindliche Preisempfehlungen, Preise, die auf 99 enden oder – gerade im | |
Internet – die künstliche Verknappung: Von diesen Sneakers gibt es nur noch | |
zwei, bestelle jetzt! Warum lassen wir uns so einfach manipulieren? | |
Das hat auch damit zu tun, dass unser Gehirn sich mit Preisen insgesamt | |
schwertut. Aber es gibt noch einen weiteren Punkt: Wir gehen davon aus, | |
dass der Wert eines Produktes etwas mit den Herstellungskosten zu tun | |
hätte. Und das ist nun oftmals überhaupt nicht der Fall. Auf Preise wirken | |
zahlreiche Faktoren – politische, ökonomische, auch juristische, wie etwa | |
bei der Buchpreisbindung. | |
Aber wir beurteilen ja auch Preise anhand von Erfahrungswerten. Also: Was | |
kostet das Gleiche bei der Konkurrenz oder was hat es früher gekostet. | |
Das stimmt. Deshalb sind wir bei Produkten, die wir regelmäßig konsumieren, | |
auch besser in unserer Einschätzung. Aber auch da lässt sich unsere | |
Wahrnehmung sehr leicht verzerren, wie etwa damals bei der Einführung des | |
Euro, als wir noch kein gutes Gefühl für die neuen Summen hatten. Oder eben | |
durch Tricks wie künstliche Verknappung. | |
Was passiert beim Kaufen im Gehirn? | |
Zunächst sehen wir ein Produkt. Wenn uns das gefällt, wir also eine | |
grundsätzliche Bereitschaft haben zum Kauf, dann sind im Gehirn die Areale | |
aktiv, die auch dann aktiv werden, wenn ich mich wohlfühle. Wenn ich dann | |
den Preis sehe, werden im Gehirn Areale aktiviert, die auch für das | |
Schmerzempfinden mit zuständig sind. Wenn nun die negativen Gefühle stärker | |
sind, wenn also der Preisschmerz stärker ist als meine Zuneigung zum | |
Produkt, dann bleibt das Entscheidungszentrum deaktiviert. Ich kaufe also | |
nicht. | |
Das klingt danach, als wäre ein Kauf mitnichten eine rationale | |
Entscheidung. | |
Na ja, was ist schon rational? Aber es gibt tatsächlich unglaubliche | |
Erkenntnisse. Zum Beispiel werden bei Fußballweltmeisterschaften im Land | |
des gewinnenden Teams mehr Aktien gekauft als im Land des verlierenden | |
Teams. | |
Hat das dann etwas mit dem Wohlfühlzentrum im Gehirn zu tun? | |
Ja, davon kann man ausgehen. Aktienkauf ist ja immer etwas, wo man | |
optimistisch sein muss. Wenn ich eine grundlegend optimistische Stimmung | |
habe, dann bin ich dem vielleicht eher zugeneigt. | |
Neuropricing – also die Reaktion von Menschen auf Preise nicht durch | |
Befragung oder Beobachtung, sondern durch EEG-Hirnscans zu ermitteln – ist | |
eine verhältnismäßig junge Disziplin. Wie verändert die unser Verständnis | |
von Preisen? | |
Es verändert unser Verständnis fundamental. Denn einerseits geben | |
Konsumenten, wenn sie in der Marktforschung gefragt werden, welchen Preis | |
sie zu zahlen bereit wären, nicht immer die tatsächliche Summe an. | |
Andererseits sind Konsumenten auch selbst nicht unbedingt gut darin, | |
einzuschätzen, welchen Preis sie tatsächlich für angemessen halten. Ich | |
habe eine recht bekannte Studie mit Starbucks gemacht, wo man die Leute | |
gefragt hat, was sie an Preiserhöhung akzeptieren würden für den Kaffee. | |
Und im EEG hat man dann gesehen, dass der akzeptierte Preis deutlich höher | |
lag als das, was die Menschen angegeben haben. | |
Wie erkennt man das? | |
Man kann an den Hirnströmen sehen, wenn Menschen etwas als passend | |
empfinden. Wenn ich etwa die Worte Butter und Brot einblende, wird das als | |
passend wahrgenommen. Butter und Mond aber nicht. Analog sind auch die | |
Preise erkennbar, die Menschen als passend empfinden. | |
Ist das nicht ziemlich dystopisch für Verbraucher:innen? | |
Nicht unbedingt. Wir hatten ja eingangs die Beispiele vom besser | |
schmeckenden Wein und dem besser wirkenden Schmerzmittel. Wenn als passend | |
empfundene Preise dazu führen, dass die Menschen Produkte mehr genießen | |
können oder dass sie besser wirken, dann ist das für sie ja auch ein | |
Vorteil. | |
Durch die gerade vergleichsweise hohe Inflation verändern sich die Preise | |
teilweise schnell. Wenn wir eh schon evolutionär ein schlechtes Gehirn | |
haben, was Preise angeht, was heißt das dann für uns? | |
Psychologisch gesehen gibt es im Grunde zwei Strategien, um damit | |
umzugehen. Die erste ist ein Aktionismus, also immer weiterzusuchen nach | |
dem günstigsten Angebot. Das ist nicht immer sinnvoll, etwa wenn für einen | |
leicht niedrigeren Benzinpreis weitere Strecken gefahren werden. Die zweite | |
ist die Resignation, also Augen zu und durch. Das ist natürlich aus | |
Verbrauchersicht problematisch, denn Hilflosigkeit ist eigentlich ein | |
Modell für Depressionen. | |
Heißt das, wir müssen diese Inflationsrate auch im Hinblick auf die | |
psychischen Folgen ernst nehmen? | |
Wissenschaftlich gesehen will ich das noch nicht so unterschreiben. Ich | |
halte es für vertretbar zu sagen, dass es eine Form der gelernten | |
Hilflosigkeit gibt, aber das führt nicht zwangsläufig zu einer Depression. | |
Andererseits ist es so, dass man aus der Psychotherapie weiß, dass bei | |
psychischen Problemen häufig auch finanzielle Probleme im Spiel sind. | |
Insofern denke ich, dass man die Gesamtsituation, in der es für viele | |
Menschen finanziell enger wird, auch im Hinblick auf psychische Folgen | |
ernst nehmen muss. | |
Können wir den unterbewussten Vorgängen, die beim Kaufen in unserem Gehirn | |
ablaufen, gegensteuern, indem wir bewusster handeln? Oder sind wir da | |
komplett machtlos? | |
Der beste Trick ist: Nicht shoppen gehen. Nur dann einkaufen, wenn man | |
etwas braucht und dann mit Einkaufliste. Und nur das kaufen, was draufsteht | |
und nicht noch etwas anderes, nur weil das im Angebot ist. Außerdem hilft | |
es, Einkäufe, die nicht akut notwendig sind, zu verschieben. Vielleicht ist | |
das, was man heute unbedingt kaufen wollte, übermorgen schon gar nicht mehr | |
so wichtig. | |
12 Aug 2022 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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