# taz.de -- Auf dem Markt in Odessa: Kartoffeln, Klatsch und Krieg | |
> Ein Besuch des Basars lohnt sich auch dann, wenn man weder Lebensmittel | |
> noch Kleidung kaufen will. Es geht darum, wie die Stadt sich anfühlt. | |
Bild: Straßenleben in Odessa | |
Die Märkte von Odessa haben immer ihre ganz eigene Atmosphäre. Zwischen den | |
Ständen kann man den neuesten Klatsch hören und versteht, wie die Stimmung | |
in der Stadt ist. Nach einem der nächtlichen Raketenbeschüsse von Odessa | |
fuhr ich auf den Markt, um, wie man bei uns sagt, „Basar zu machen“. Alle | |
Geschäfte waren geöffnet, an den Ständen gab es saisonales Obst und Gemüse | |
und in alten Containern, die zu Boutiquen umfunktioniert worden waren, | |
hängten Verkäufer Kleidungsstücke auf. | |
„Willst Du einen Dranik?“, fragte eine Verkäuferin ihre Kollegin und hielt | |
ihr einen kleinen Kartoffelpuffer hin, die bei uns „Dranik“ genannt werden. | |
„Ich habe schon bei Sonnenaufgang die Kartoffeln gerieben und plötzlich hat | |
es geknallt! Aber ich hab mit aller Kraft weiter gemacht, fast den Finger | |
mit erwischt. Und, schmeckt's?“ | |
„Sehr! Mädchen, was wünschen Sie?“, wandte sie sich dann an mich. Ich | |
sagte, dass ich nur schaue, wünschte guten Appetit und ging weiter. Der | |
Markt erinnerte an diesem Tag an eine Radiowerkstatt. Bei jedem Schritt | |
erreichte einen eine neue Klangwelle. Das Thema blieb immer das gleiche. | |
Der Krieg. Die Menschen redeten und redeten. | |
„Nein, nun sieh dir das an. Sie sind gekommen, um uns zu befreien. Von was | |
denn? Vom Leben? Na, mögen sie…“ – damit war ich schon mitten in einem | |
anderen Gespräch. Dann wandte ich mich den Wassermelonen zu. Früher um | |
diese Zeit kamen die aus [1][Cherson. Jetzt ist die Stadt temporär | |
besetzt]. Ich wollte wissen, woher diese Früchte jetzt kommen. Darum ging | |
ich ein bisschen näher an den Stand und las das Schild: „Wenn Sie unbedingt | |
Wassermelonen möchten, dann nehmen Sie diese, aber sie sind importiert. | |
Wenn Sie ein bisschen Geduld aufbringen können, dann warten Sie auf unsere | |
einheimischen, ukrainischen. Cherson wird bald befreit.“ Wir warten. | |
Leider gibt es Schwierigkeiten mit der Lieferung von Fisch. Bei uns gab es | |
den früher immer fangfrisch aus dem Schwarzen Meer. Jetzt ist es nicht nur | |
verboten, ihn dort zu fangen, man darf nicht mal ans Meer, wegen der Minen. | |
Die Tyulka-Sardinen, kleine Schwarzmeerfische, werden jetzt aus dem | |
Baltikum importiert. Heimische, aus den Gewässern vor Odessa, kann man | |
nirgends mehr finden. Es fehlt uns an nichts. Einige Lebensmittel wurden | |
durch Importprodukte ersetzt, einige kosten doppelt so viel wie früher, | |
aber es gibt sie. | |
Nachdem ich mich über die für Odessa strategisch wichtigen Lebensmittel – | |
Fisch, Gemüse, Obst – informiert hatte, ging ich zu den Klamottenständen. | |
In einem der Geschäfte erregte ein nettes Mädchen meine Aufmerksamkeit. Sie | |
hatte etwa ein Dutzend Outfits über dem Arm, und es war klar, dass sie | |
ungefähr die gleiche Anzahl bereits anprobiert hatte. „Machen Sie sich | |
keinen Stress, ich versteh das alles“, sagte die Verkäuferin. „Hier kommen | |
jetzt viele, nur, um Klamotten anzuprobieren und ihre Stimmung zu heben. | |
Mit Arbeit ist es gerade nicht so leicht, aber man will ja leben.“ | |
An diesem Tag brauchte ich nichts vom Markt. Ich wollte keine Kleider, | |
keine Lebensmittel und auch sonst nichts. Ich wollte die Leute sehen, ihre | |
Stimmen hören, ich wollte verstehen, dass die Menschen zur Arbeit gehen und | |
– trotz allem – an das Gute glauben. [2][Das ist meine Stadt – und sie | |
lebt]. | |
Aus dem Russischen von [3][Gaby Coldewey] | |
Finanziert wird das Projekt von der [4][taz Panter Stiftung]. Einen | |
Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im | |
September heraus. | |
4 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tatjana Milimko | |
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