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# taz.de -- Auf die Zukunft hoffen in Odessa: „Ich glaube an Wunder wie ein K…
> Die Angst kommt in Wellen, die Menschen wollen an den Strand. Und Tatjana
> Milimko will an den Sieg des Guten glauben.
Bild: Die Menschen wollen an den Strand, Szene in Odessa Ende Mai
In diesen Tagen gelten wir als Frontstadt und leben in Angst. Die Angst
durchläuft jeden in Wellen. Es sind nicht nur die russischen Kriegsschiffe,
die uns vom Meer aus terrorisieren, sondern auch die Einschüchterung durch
russische Soldaten, deren Stützpunkt sich im benachbarten Transnistrien
befindet. Es sind auch die russischen Medien, die immer wieder Odessa
erwähnen und Lügen verbreiten. Was uns bleibt: einatmen, ausatmen und
weitermachen, um den nächsten Tag zu erleben.
Odessiten sind zu Freiwilligen geworden, die Flüchtlingen helfen. Odessiten
fahren ins benachbarte [1][Mykolajiw, wo durch den Beschuss russischer
Soldaten die Wasserversorgung unterbrochen wurde]. Sie graben dort Brunnen
und liefern Trinkwasser. Sie geben Konzerte, weil auch Kultur unterstützen
kann. Und trotz allem machen die Odessiten immer noch Witze. Ich denke, das
ist sowieso unser Markenzeichen, dass wir alle Schwierigkeiten mit einem
Lächeln überstehen.
[2][Im Sommer will man unbedingt ans Meer], aber wegen der Minen ist das
gefährlich. Trotzdem schaffen es die Menschen irgendwie, Orte am Strand zu
finden, wo sie in der Sonne liegen können. Soldaten und Polizei haben es
aufgegeben, uns davon abzubringen. Sie achten nur darauf, dass bestimmte
Regeln eingehalten werden. Und bei Luftalarm bitten sie alle, Schutz zu
suchen.
Neulich traf ich einen Kollegen, mit dem ich einige Tage vor Kriegsbeginn
darüber gesprochen hatte, ob der Krieg wirklich ausbrechen würde. Ich
sagte, er würde sicher bald beginnen. Und dass mein Körper schon die
Anspannung spürte. „Ich bin wie ein Tier, das merkt, wie der Jäger näher
kommt.“ Und so ist es dann ja auch gekommen. Aber damals in unserem
Gespräch hatte ich auch gesagt, dass in Odessa alles gut gehen würde, dass
ein Wunder passieren und die russischen Okkupanten ein für sie so delikates
Stückchen Land nicht bekommen würden.
## Kann man zurückkehren zum alten Ich?
Seit hundert Tagen glaube ich an ein Wunder. Ich bin eine erwachsene Frau
mit zwei Kindern und zwei Hochschulabschlüssen. Aber ich glaube an ein
Wunder wie ein Kind. Und doch habe ich jetzt das Gefühl, dass das Böse
gewinnt.
Weder ich noch irgendein anderer Odessit gestattet sich Müdigkeit oder
Gewöhnung an den Krieg. Ich habe mir selbst und denen um mich herum immer
wieder gesagt: „Jeder Krieg geht zu Ende.“ Und wenn alles vorbei ist,
möchte ich zu meinem alten Ich zurückkehren, freundlich und liebevoll zur
Welt.
Aber geht das überhaupt? Das ist vielleicht die Frage, die unter meinen
Bekannten am meisten diskutiert wird. Alle sind überzeugt, dass wir nie
wieder dieselben sein werden wie früher. Ich glaube, dass wir besser sein
werden. Und wenn wir siegen, laden wir alle echten Freunde ein – Menschen
aus verschiedenen Ländern, die uns in schwierigen Zeiten geholfen haben.
Wir zeigen ihnen unser Meer, unsere Berge, Städte und Dörfer, unsere schöne
Heimat, unser großes, friedliches Land. Wir werden am Ufer des Schwarzen
Meeres sitzen und Wein trinken und uns ohne Worte verstehen. Wir werden
lachen und auf den Sieg über das Böse anstoßen. Auf den Sieg des Lichts
über die Finsternis.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der [3][taz Panter Stiftung].
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA
im September als Dokumentation heraus.
5 Jun 2022
## LINKS
[1] /Zerstoerte-Infrastruktur-in-der-Ukraine/!5853211
[2] /Der-fragile-Alltag-in-Odessa/!5852034
[3] /!p4550/
## AUTOREN
Tatjana Milimko
## TAGS
Kolumne Krieg und Frieden
Russland
Odessa
Ukraine
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