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# taz.de -- Reaktionen auf Holocaust-Relativierung: Sekundenschlaf im Kanzleramt
> Palästinenerpräsident Mahmud Abbas relativierte den Holocaust und der
> Kanzler schwieg. Beide bemühen sich um Schadensbegrenzung.
Bild: Was ist schiefgelaufen? Regierungssprecher Hebestreit nimmt die Schuld f�…
Es kommt nicht häufig vor, dass der Regierungssprecher den Fokus der
Aufmerksamkeit vom Kanzler weg auf sich lenkt. Sein Job ist es, den Kanzler
glänzen zu lassen und hinter ihm hübsch im Schatten zu bleiben. Am Mittwoch
in der Bundespressekonferenz ist so ein seltener Moment umgekehrter
Aufmerksamkeitsökonomie.
Steffen Hebestreit, seit gut zehn Monaten Chef des Bundespresseamts, ein
lockerer Typ mit Dreitagebart und nie um einen flotten Spruch verlegen,
erscheint sichtlich zerknirscht vor den versammelten
Hauptstadtjournalist:innen. Mit schneller, leiser Stimme spricht er von der
schlechten Performance des Regierungssprechers – also seiner. Er habe nicht
schnell und wach genug reagiert. Was ist passiert?
Am Dienstag war Mahmud Abbas, 87, Präsident der Palästinenser, zu Gast im
Berliner Kanzleramt. Die übliche Pressekonferenz im Anschluss neigte sich
nach gut 20 Minuten dem Ende zu. Abbas redete lang, arabisch mit deutscher
Simultanübersetzung, Kanzler Olaf Scholz eher kurz und mit jener Ironie,
die nicht immer als solche zu erkennen ist.
Abbas regiert seit 2005. Seine Fatahpartei weigert sich seit Jahren, Wahlen
abzuhalten, die sie wohl verlieren würden. Scholz sagt mit fast vergnügten
Lächeln, dass in Palästina „mal wieder gewählt werden könnte“, 2005 sei
„etwas lang her“.
## Der Kanzler starrte kurz ins Leere
Dann konterte der Kanzler Abbas’ Behauptung, dass Israel in den besetzten
Gebieten ein Apartheidregime erreicht habe. Er mache sich „das Wort
Apartheid ausdrücklich“ nicht zu eigen. Ob Apartheid eine zutreffende
Beschreibung der realen Diskriminierung der Verhältnisse in den besetzten
Gebiete ist, [1][ist umstritten].
Ganz am Ende antwortete Abbas auf eine Frage nach dem [2][Olympia-Attentat
1972], als palästinensische Terroristen israelische Sportler als Geisel
nahmen und ermordeten. Vielmehr – Abbas antwortete nicht, sondern wies
empört auf israelische Verbrechen hin.
„Israel hat seit 1947 bis zum heutigen Tag 50 Massaker in 50
palästinensischen Orten begangen. 50 Massaker, 50 Holocausts“, so Abbas.
Und weiter: „Wir sollten nicht weiter in der Vergangenheit wühlen“, sondern
Frieden und Stabilität anstreben. „Wir sollten Vertrauen aufbauen“ sagte
Abbas und nestelte kurz an seiner Brille.
Dann beendete Regierungssprecher Hebestreit, wie angekündigt, die
Pressekonferenz. Hebestreit, eigentlich bekannt dafür, schnell zu denken
und zu reagieren, reagierte nicht. Scholz tat auch nichts. Der Kanzler
starrte kurz sichtlich irritiert ins Leere. Im Abgang raunzte er seinen
Sprecher an.
## Empörung und billige Reflexe
Kurz darauf distanzierte sich Scholz von Abbas’ „unsäglichen Aussagen. Jede
Relativierung des Holocaust ist unerträglich.“ Doch der Schaden war da.
„Scholz hätte sich, obwohl die Pressekonferenz beendet war, direkt einen
Ruck geben und scharf widersprechen müssen“, so der Intellektuelle Micha
Brumlik zur taz.
Die mediale Reizreaktionskette war in Gang gesetzt. Es hagelte Kritik.
CDU-Oppositionsführer Friedrich Merz fand Scholz’ Schweigen „unfassbar“.
Der Kanzler hätte Abbas die Tür weisen müssen. Der CDU-Abgeordnete Matthias
Hauer fand Scholz späte Distanzierung „unverzeihlich.“ Nur der grüne
Außenpolitikexperte Jürgen Trittin attestierte Merz „simple, etwas billige
Oppositionsreflexe“ und betonte, dass Scholz den Apartheid-Vorwurf
zurückgewiesen hatte.
Was ist schiefgelaufen? „Das sind Sekundenentscheidungen“, so beschrieb
Hebestreit am Mittwoch in der Bundespressekonferenz die Situation. Er habe
am Ende der Pressekonferenz mit Abbas keinen Blickkontakt zum Kanzler
gehabt, sondern ins Publikum geschaut.
Allerdings hätte das Kanzleramt bei Abbas gewarnt sein können. [3][2018
hatte Abbas behauptet], dass die Juden in Europa nicht wegen ihrer Religion
verfolgt worden waren, sondern weil sie „mit Wucher und Bankgeschäften zu
tun hatten“ – ein antisemitisches Stereotyp.
## Tacheles mit der Autonomiebehörde
Hebestreit beteuert, dass der Fauxpas nichts mit mangelnder Vorbereitung zu
tun gehabt habe. Sondern nur mit ihm. Der Sprecher wirft sich vor den
Kanzler und nimmt die Schuld auf sich. Es ist Teil seiner Jobbeschreibung.
Dann verliest Hebestreit eine lange Erklärung der Bundesregierung zu Abbas’
Äußerung, in dem die Schlagworte „völlig inakzeptabel“, „entsetzt“,
„Entgleisung“, „unentschuldbar“ fallen. Der Bundeskanzler verurteile die
Äußerungen auf das Schärfste und bedauere, dass er nicht auf die Anwürfe
reagieren konnte.
Das Kanzleramt hat am Mittwochvormittag den Leiter der palästinensischen
Vertretung in Berlin einbestellt. Jens Plötner, Scholz’ außenpolitischer
Berater, wird Tacheles geredet haben. Auf den deutschen Beziehungen zur
palästinensischen Autonomiebehörde laste nun „ein dunkler Schatten“, so
Hebestreit. Am Donnerstag wird Scholz mit dem israelischen
Ministerpräsidenten Jair Lapid telefonieren.
Schadensbegrenzung überall. Auch Abbas ruderte am Mittwoch zurück, er halte
den Holocaust für „ das abscheulichste Verbrechen der modernen menschlichen
Geschichte“. Die Formel „50 Holocausts“ nahm er aber nicht zurück. Diese
Formulierung ist antisemitisch, weil sie den jüdischen Staat als Täter mit
den Verbrechen der Nazis verbindet.
Allerdings ist die Idee, Israel habe in Palästina 50-mal „ das
abscheulichste Verbrechen der modernen menschlichen Geschichte“ verübt
sogar zu verrückt, um für grobschlächtige Propaganda zu taugen. Für Micha
Brumlik ist Abbas’ Formulierung ein Zeichen „für die Entleerung des
Holocaust-Begriffs“.
17 Aug 2022
## LINKS
[1] /Apartheid-und-Israel/!5762844
[2] /Olympia-Attentat-1972-in-Muenchen/!5870869
[3] https://www.dw.com/de/abbas-aussagen-zum-holocaust-sorgen-f%C3%BCr-entsetze…
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Anna Lehmann
## TAGS
Israel
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