| # taz.de -- Rauchen, Pupsen, Lügen: Wir brauchen Tabus | |
| > Ständig geht es um Enttabuisierung, doch viele Tabus braucht es für ein | |
| > harmonisches Miteinander. Ein Plädoyer für fünf, die wir beibehalten | |
| > sollten. | |
| Bild: Pickel ausdrücken macht Spaß, ja, aber bitte nicht in der Öffentlichke… | |
| ## Lügen für die Freundschaft | |
| Die Bilder sind so lala. Aber meine Freundin malt und malt und malt mit | |
| Freude – Landschaften, Stadtansichten, Blumen, alles, was ihr in den Sinn | |
| kommt. Sie liebt es und kann, seit sie damit angefangen hat, nicht mehr | |
| davon lassen. Aquarelle, Wachsmalerei, Bleistiftzeichnungen. Manchmal | |
| schickt sie mir ganze Serien über WhatsApp zu und fragt: Wie findest du | |
| die? Das ist der Moment, an dem ich mich für unsere Frauenfreundschaft und | |
| gegen die Wahrheit entscheide. | |
| Ich antworte kurz, so was wie „Nein, das bist du nicht“, wenn sie ein | |
| Selbstporträt produziert hat. Sie malt sich häufig unvorteilhaft, mit | |
| Körperproportionen, die nicht ihre sind, mit einem verhärteten Gesicht, das | |
| sie auf keinen Fall darstellt – sie ist eine fröhliche, lebensbejahende, | |
| humorvolle Frau. Aber manche Bilder, in denen sie sich verewigt, zeigen | |
| genau das Gegenteil. | |
| In diesen Fällen widerspreche ich. Aber bei all den Landschaften, den | |
| Blumen, dem Meeresrauschen halte ich mich vornehm zurück. Ich will meine | |
| Freundin nicht verletzen, auch wenn sie um Kritik bittet. Nun könnte ich | |
| sagen: Ist nicht mein Geschmack. Das müsste ich aber fast jedes Mal tun. | |
| Das ist nicht nur langweilig, sondern vor allem ungerecht. Sie ist keine | |
| professionelle Künstlerin, die harte Kritik einstecken muss. Sie ist eine | |
| Freizeitmalerin, die wachsende Freude daran hat, sich auf einen | |
| italienischen Marktplatz zu setzen und eine Kirche zu zeichnen. Dabei | |
| schaue ich ihr gern zu und bewundere ihre Versunkenheit beim Malen. Kommt | |
| es nicht genau darauf an? Simone Schmollack | |
| ## Polizei rufen bei Lärmbelästigung | |
| Es ist der Klassiker auf jeder zweiten WG-Party: Spätestens um 2 Uhr | |
| nachts, selbst am Wochenende, steht wegen Lärmbelästigung die Polizei vor | |
| der Tür. Ich gehöre nicht zu jenen jungen Menschen, die für sich das Recht | |
| beanspruchen, jederzeit laut sein zu dürfen. Und dann über die „Spießer“ | |
| ablästern, die um Ruhe bitten und ihnen damit den Spaß verderben wollen. Es | |
| gibt Nachbar:innen, die absolut legitime Gründe haben, zum Beispiel | |
| Menschen mit Babys oder jene, die im Schichtbetrieb arbeiten und für die es | |
| essenziell ist. Was aber wirklich der Inbegriff deutscher Spießigkeit und | |
| dazu ziemlich feige ist: Die Polizei vorzuschicken, statt einfach mal kurz | |
| zu klingeln und zu fragen, ob’s nicht leiser ginge. | |
| Das sorgt nicht nur für unverhältnismäßig blöde Situationen, es kann für | |
| manche Menschen mitunter bedrohlich werden. Zum Beispiel für die einzige | |
| nichtweiße Person aus der Gruppe, die rausgezogen und schikaniert wird, wie | |
| es einem Bekannten von mir neulich geschehen ist. Also, liebe | |
| Hausgemeinschaft: Bitte nicht die 110 rufen in Situationen, die man easy | |
| selbst klären kann! Clara Engelien | |
| ## Pupsen in der Öffentlichkeit | |
| Er ist zwar noch nicht wirklich auf dem Weg der Enttabuisierung, aber sein | |
| kleiner Bruder, der Rülpser, wird immer salonfähiger, und so könnte es mit | |
| dem Pups auch nicht mehr weit sein. Pupse sind so vielfältig wie das | |
| Gasgemisch, aus dem sie bestehen. Es gibt sie laut und leise, neutral- | |
| [1][und übelriechend. Und genau darin liegt das Problem.] | |
| Da ist das Maß der Lautstärke. Dazu ein Beispiel aus der Empirie: Mein | |
| Vater entlüftet sich für sein Leben gern, am liebsten laut und öffentlich. | |
| Es ist seine Art, gegen bürgerliche Konventionen aufzubegehren. Er machte | |
| sich lange einen großen Spaß daraus, wenn ich das ultrapeinlich fand. | |
| Einmal trat er zum Rauchen auf den Balkon. Auf dem angrenzenden Balkon saß | |
| die Nachbarin, bei Kerzenschein und vollen Tellern, vermutlich ein | |
| Rendezvous. Da drehte mein Vater einmal kurz, aber unüberhörbar das Ventil | |
| auf, das Gespräch nebenan verstummte, ich verließ fluchtartig den Balkon. | |
| Hinterher behauptete er kichernd, das Dinner auf dem Nachbarbalkon hätte er | |
| gar nicht bemerkt. Ich glaubte ihm kein Wort. | |
| Heute kann mich mein Vater damit nicht mehr schocken. Ich würde so weit | |
| gehen, dass ich dem öffentlichen Flatulieren geradezu offen gegenüberstehe. | |
| Schließlich gilt es als ungesund, sich Gase zu verkneifen, und wer will | |
| schon ungesund leben? Wäre da nicht noch das andere Maß. | |
| Empirisches Beispiel Nummer 2: Als Kind habe ich mich mal druckwellenartig | |
| übergeben, weil der Pups eines Kumpels nach zwei Tellern Chili con Carne so | |
| ekelerregend stank. Das ist die wahre Kehrseite des öffentlichen Blähens | |
| und eine Zumutung, die keine Revolution gegen jedwede Spießbürgerlichkeit | |
| rechtfertigen kann. Solange Menschen also noch nicht erspüren können, | |
| welche Duftmarke ihr Pups hinterlässt, möge er in der Öffentlichkeit ein | |
| Tabu bleiben. Nora Belghaus | |
| ## Pickel Ausdrücken im Freien | |
| Neulich saß ich mit Freunden in einem Park. Es war schon spät, da ging | |
| einer noch mal los, um am nächsten Späti eine Flasche Wein zu besorgen. Er | |
| kam verstört zurück. Folgendes war passiert: Im Kiosk hatte ihn, hinter der | |
| Kasse stehend, eine Verkäuferin mittleren Alters begrüßt. Als er nach | |
| einigem Suchen nach dem richtigen Wein wieder zwischen den Regalen und | |
| Getränkekisten hervortrat, stand sie immer noch dort. Doch nun hatte sie | |
| sich tief über den Tresen gebeugt, ihren Busen entspannt neben der Kasse | |
| abgelegt und drückte in aller Seelenruhe einen Pickel zwischen ihren | |
| Brüsten. Mein Freund blieb irritiert stehen. Er räusperte sich, vielleicht | |
| hatte sie ihn ja nur nicht bemerkt. Doch die Dame blickte kurz auf, sagte: | |
| „3,99 Euro“ und widmete sich dann wieder der Arbeit an ihrer Talgdrüse. | |
| Mein Freund verließ fluchtartig den Laden. Und ich verstehe ihn. Auch ich | |
| bin schockiert. Und ich vermute so langsam die Erosion einer | |
| gesellschaftlichen Übereinkunft, auf die ich viel Wert lege: Seit wann ist | |
| es in Ordnung, vor anderen Menschen Pickel auszudrücken? Eigene? Fremde? | |
| Denn auch das erlebe ich immer wieder, sogar in meinem eigenen | |
| Freundeskreis: Paare, die sich gegenseitig im Gesicht, am Rücken, an den | |
| Oberarmen herumfummeln – weil sie einander Pickel ausdrücken. Vielleicht | |
| liegt es an mir: Ich komme nicht zurecht damit, wenn Menschen öffentlich | |
| ihr Innerstes nach außen kehren. Und damit meine ich nicht, was Sie jetzt | |
| denken. Wir alle kennen dieses berauschende Gefühl der Befriedigung, | |
| nachdem wir einen monströsen Pickel gedrückt haben. Meinen Freunden steht | |
| es nach jeder ihrer Minioperationen ins Gesicht geschrieben. Dieser | |
| unverhohlene Stolz nach erfolgreich getaner Arbeit, die Begeisterung, ich | |
| ertrage es nicht. Solche Regungen gehören nicht in die Öffentlichkeit. | |
| Zurück damit ins Private! Ich fordere: Pickel drücken nur vorm heimischen | |
| Badezimmerspiegel! Lale Artun | |
| ## Rauchen auf der Straße | |
| [2][Rauchen auf der Straße.] Es ist kein Tabu in Deutschland, sollte aber | |
| eines sein – und wird bereits regional in Japan umgesetzt. Denn was für | |
| Raucher:innen einen kleinen Eingriff in ihren Alltag bedeutet, ist für | |
| Mehrheitsgesellschaft und Umwelt ein großer Gewinn. In der Nähe von | |
| japanischen Bahnstationen, Convenience Stores oder Sehenswürdigkeiten | |
| befinden sich stets Rauchbereiche. Raucht man außerhalb und wird dabei von | |
| der Polizei erwischt, gibt es Bußgeld. Mit gutem Grund. | |
| Wenn jemand gemütlich quarzend die Straße entlangläuft und man selbst muss | |
| hinter dieser Person hinterherdackeln, bekommt man den Qualm gratis in die | |
| Lunge mitgeliefert – ob man will oder nicht. Zudem interessieren sich viele | |
| Raucher:innen nicht für die Entsorgung danach, auf Deutschlands | |
| Bürgersteigen finden sich stets plattgetrampelte Stummel und Filter. Das | |
| dadurch verpestete Grundwasser bleibt für alle nicht gebührenfrei. | |
| Außerdem verliert der Akt das Prestige der Coolness und den | |
| Mitläufereffekt: Denn mit Abhängigen abzuhängen, vergeudet auf Dauer viel | |
| Zeit. Man ist stets damit beschäftigt, gemeinsam nach Raucherspots zu | |
| suchen und darauf zu warten, dass sie endlich aufquarzen, um weiterziehen | |
| zu können. Der Druck der Gruppe ist vielleicht sogar die beste Therapie, um | |
| aufzuhören. Shoko Bethke | |
| 17 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
| Shoko Bethke | |
| Clara Engelien | |
| Nora Belghaus | |
| Lale Artun | |
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