# taz.de -- Soziologe über Russland im Krieg: „Putins System steht unter Dru… | |
> Der Moskauer Soziologe Greg Judin ist überzeugt: Mit Kriegsbeginn hat in | |
> Russlands Gesellschaft ein Umsturz stattgefunden. Mit welchem Ausgang? | |
Bild: Die Polizei ist nicht weit: Proteste gegen Putins Angriffskrieg im März … | |
taz: Herr Judin, trägt die russische Gesellschaft eine Mitverantwortung für | |
Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine? | |
Greg Judin: Um mit Hannah Arendt zu sprechen: Kraft dessen, dass jeder | |
Mensch einer politischen Gemeinschaft angehört, trägt er für diese auch | |
Verantwortung. Davon kann sich niemand freimachen. | |
Aber offensichtlich passiert genau das in Russland … | |
Laut Arendt gibt es Situationen im Leben, in denen es sich nicht lohnt, für | |
den Frieden zu kämpfen. Doch jeder muss sich darüber klar werden, wofür er | |
oder sie in einer bestimmten Situation die Verantwortung trägt. Hier kann | |
man zwei Dinge tun: Position beziehen, selbst wenn das etwas kostet. Und in | |
Russland kann das der Fall sein. Das Zweite ist, darüber nachzudenken, was | |
ich in dieser Situation tun kann. Was hängt jetzt von mir ab? Das muss man | |
sich selbst abverlangen. | |
Sie haben wiederholt von einer Atomisierung der russischen Gesellschaft | |
gesprochen. Was bedeutet das genau? | |
Atomisierung ist die Zerstörung von Solidarität, jeder sieht sich nur als | |
Individuum. Russland ist eines der Länder, in dem die Menschen am wenigsten | |
Vertrauen haben. Diese Atomisierung hat schon früher eingesetzt, jedoch hat | |
Wladimir Putin jetzt angefangen, diese Politik auch als strategisches | |
Mittel einzusetzen. | |
Mit welchem Ziel? | |
Wenn jeder für sich ist, macht es das Regieren für ein totalitäres Regime | |
leichter. Das heißt: Jede kollektive Aktion blockieren oder den Glauben | |
daran, dass Menschen gemeinsame Interessen haben. | |
In einem Beitrag zum 9. Mai haben Sie von einem neuen russischen Faschismus | |
gesprochen. | |
Unter Faschismus verstehe ich die klassische Triade Führer, Staat und Volk, | |
die sich alle miteinander identifizieren. Faschismus, das ist ein totaler | |
Staat, der mit dem Führer und der Gesellschaft eins ist. Du kannst nicht | |
innerhalb der Gesellschaft sein, wenn du kein Teil des Staates bist. Wenn | |
du gegen den Staat bist, bist du gezwungen, die Gesellschaft zu verlassen. | |
Du bist ein Fremder, ein Verräter, ein Feind. Und du musst den Führer | |
unterstützen. In Russland gab es diese Tendenzen schon früher, doch mit dem | |
24. Februar hat ein Umsturz stattgefunden. Er hat die Kluft zwischen Staat | |
und Gesellschaft verschwinden lassen. | |
Jeder Faschismus setzt eine Mobilisierung voraus. Bislang gründete Putins | |
Regime auf einer Depolitisierung und Demobilisierung. Eine passive | |
demobilisierte Masse ist das ideale Material für eine Mobilisierung. Warum? | |
Weil zwischen den Menschen keine horizontalen Verbindungen bestehen. Doch | |
das ändert sich jetzt. Der Faschismus ist eine Bewegung und eben mehr als | |
eine Einheit zwischen Führer, Nation und Staat. Wenn wir verstehen wollen, | |
was weiter passieren wird, müssen wir uns nicht nur auf das Regime | |
konzentrieren, sondern auf diese starke faschistische Bewegung, die eine | |
Mission hat. Deshalb wird das alles nicht aufhören, solange diese Mission | |
nicht erfüllt ist oder dieses Regime nicht verschwindet. | |
Sie unterrichten an der Moskauer School of Economics. Wie wirkt sich die | |
gegenwärtige Entwicklung auf das akademische Leben aus? | |
Der Druck auf das Bildungssystem ist massiv gewachsen, es ist zu einem | |
Propagandasystem geworden. Hunderte Lehrkräfte und Studierende an | |
staatlichen Hochschulen wurden entlassen oder relegiert. Die, die mit dem | |
Staat nicht einverstanden sind, werden als Verräter gebrandmarkt. Jeden Tag | |
betrifft das Dutzende, ich bekomme entsprechende Nachrichten. Alle Rektoren | |
sind jetzt loyal. Auf den unteren Ebenen werden Lehrkräfte entlassen und | |
durch Leute mit Verbindungen zum Geheimdienst FSB ersetzt. | |
Was bedeutet das für die nächsten Generationen? | |
Die Lehrpläne wurden komplett geändert. Der Geschichtsunterricht wird als | |
Bereich angesehen, um Putins Version der Geschichte zu vermitteln, die | |
krank und verrückt ist. In den Schulen gibt es jetzt sogenannte | |
Unterrichtsstunden des Mutes. Das ist eine Kombination aus Putins Ansichten | |
zur Geschichte und militaristischer Propaganda. Das reicht von den | |
Universitäten über die Schulen bis hin zu den Kindergärten. Studenten | |
denunzieren ihre Professoren. | |
So etwas gab bis zum 24. Februar nicht. Das alles vollzieht sich in einer | |
Atmosphäre der Angst. Die Machthaber wissen ganz genau, dass die Jugend | |
ihre Schwachstelle ist und ihre Ziele nicht unterstützt. Und sie brauchen | |
Kanonenfutter. Sie tun alles, damit die jungen Leute in die Krieg ziehen | |
und bereit sind zu sterben. | |
Versteht der Westen überhaupt, was in Russland vorgeht? | |
Die Illusionen sind verflogen. Ein Großteil der Eliten versteht, dass es | |
keinen Weg zurück gibt. Dennoch gibt es keine strategischen Vorstellungen | |
davon, wie mit Russland weiterverfahren werden soll. | |
Hat der Westen Fehler begangen? | |
Es gab Fehler, aber auch eine bewusst schädliche Politik des Westens. So, | |
als ob alles gut gewesen sei, jetzt jedoch plötzlich in Russland ein | |
sibirischer Bär aufgewacht sei. Das ist falsch. Wir haben übrigens | |
jahrelang davor gewarnt, dass das alles so enden wird. Trotzdem hat sich | |
nichts geändert. Im Jahr 2020 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den | |
Kremlkritiker Alexei Nawalny in der Charité besucht, jedoch gleichzeitig | |
darauf bestanden, dass der Vertrag über die Pipeline Nord Stream II erfüllt | |
werden müsse. Wie kann so etwas sein? | |
Haben Sie eine Antwort darauf? | |
Hier führt es nicht weiter, auf die Beziehungen zwischen einzelnen Staaten | |
zu blicken – Russland und Deutschland oder die Ukraine und Russland. Hier | |
geht es um das globale Kapital, das eng mit Putin verbunden ist und die | |
ganze Welt im Griff hat. Gerhard Schröder, ist das ein russischer Bär, ein | |
russischer Imperialist? Nein, das ist das zynische Kapital, das sich daran | |
gewöhnt hat, alles kaufen zu können, und dass der Stärkere im Recht ist. | |
Putin weiß das und hat darauf gesetzt. Opfer dieser Allianz gibt es | |
überall. Das sind vor allem die Menschen in der Ukraine, die einfach | |
getötet werden. Das gilt ebenfalls für die Menschen in Belarus, die | |
massiven Repressionen ausgesetzt sind. | |
Doch auch die Russ*innen leiden darunter. Ich möchte nur daran erinnern, | |
dass es auch in Russland unter Putin Aufstandsversuche gab. Diese endeten | |
immer damit, dass Putin irgendeinen gigantischen Milliardenvertrag | |
abgeschlossen hat. Nehmen wir die finnische Firma Nokia. Mittlerweile | |
wissen wir, dass Nokia in Russland ein großes Überwachungssystem aufgebaut | |
hat, von dem klar war, dass Putin dieses System gegen seine Gegner | |
einsetzen wird. Jetzt tritt Finnland der Nato bei. Wo ist da die Logik? | |
Wenn sich das Kapital verselbstständigt und es unmöglich wird, es zu | |
kontrollieren, dann ist das ein allgemeines Problem. | |
Welche Perspektiven sehen Sie? | |
Putins System steht unter Druck wie nie zuvor. Ich glaube, dass es in | |
Russland zu einem Bürgerkrieg kommen wird: Zwischen ultrareaktionären | |
imperialen Kräften, die das Land ins 19. Jahrhundert zurückführen wollen, | |
und sogenannten republikanischen Kräften, die zum Beispiel Nawalny | |
verkörpert. Diesen Konflikt sehen wir im gesamten postsowjetischen Raum, | |
auch in der Ukraine. Dort gibt es ebenfalls Leute, vor allem im Osten, die | |
zu einem Imperium zurück wollen. Sie sind jetzt weniger geworden, doch es | |
gibt sie. Doch darüber wird nicht gerne geredet. Auch in Belarus gibt es | |
dieses Phänomen, dort ist es jedoch einfacher. Ein ultrasowjetischer | |
Präsident und eine republikanische Nation, die vor allem Gruppen junger | |
Leute tragen. | |
Was Russland angeht, fehlt mir die Vorstellungskraft, ob es zu diesem | |
Rückfall ins 19. Jahrhundert wirklich kommt. Doch wir sehen bereits, dass | |
dieses Projekt darauf gründet, so viele Menschen wie möglich umzubringen. | |
Alle diejenigen, die das Regime als seine Gegner ansieht. Welche Form | |
dieser Konflikt annehmen wird, weiß ich nicht. Vielleicht Terror, ein | |
Bürgerkrieg oder eine Revolution. Viel wird davon abhängen, wie der Krieg | |
gegen die Ukraine endet. | |
Apropos Krieg gegen die Ukraine: Wie könnte ein künftiges Zusammenleben | |
zwischen Ukrainer*innen und Russ*innen aussehen? | |
Russland muss anerkennen, dass dieser Krieg ein Verbrechen gegen den | |
Nachbarn war. Das heißt, die Interessen der Ukraine zu ignorieren, sie als | |
Eigentum zu betrachten und Fragen mit dem Einsatz von Gewalt versuchen zu | |
lösen. Oder anders gesagt: Sinnvolle Gespräche können erst stattfinden, | |
wenn sich Russland von der imperialistischen Idee verabschiedet und eine | |
Republik wird. Dann werden die Ukrainer*innen verstehen, dass sie es mit | |
jemandem anderen zu tun haben. | |
Das kann dauern. Was könnte in der Zwischenzeit getan werden? Nach Wegen | |
für einen Dialog auf der Ebene der Zivilgesellschaft suchen? | |
Für einen Dialog sehe ich zurzeit nur bei konkreten Fragen eine Chance. Zum | |
Beispiel, wenn Russ*innen in Europa ukrainische Geflüchtete unterstützen. | |
Da kommt dann keiner auf die Idee, nach irgendeinem Pass zu fragen. Ich | |
hoffe, dass es in absehbarer Zeit die Möglichkeit geben wird, über | |
ernsthafte Fragen zu sprechen. Was passiert mit den umstrittenen | |
Territorien? Bis auf Weiteres wird Putin den Krieg in der Ukraine nicht | |
beenden, er ist fest entschlossen, dadurch seine Probleme in Europa zu | |
lösen. Und dafür wird er so viele Menschen töten, wie er das für notwendig | |
hält. | |
Wenn Russland zu der Erkenntnis kommt, dass die Freundschaft zwischen | |
Russland und der Ukraine diesem barbarischen imperialistischen Projekt zum | |
Opfer gefallen ist, könnten wieder pragmatische Beziehungen aufgebaut | |
werden. Doch da müsste man die Ukrainer*innen fragen. Wenn sie das nicht | |
wollen, könnte ich das auch verstehen. | |
9 Aug 2022 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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