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# taz.de -- Die Wahrheit: Summer in the Kreisstadt
> Große Hits werden nur über Großstädte geschrieben. Wer aber besingt die
> mittlere City mit Fußgängerzone und all ihren touristischen Attraktionen?
Bild: Ein Zug im Grünen
Der Sommer in der Kreisstadt muss beschwiegen werden, so verlangt es ein
altes Gesetz. Schon The Lovin’ Spoonful kapitulierten und warfen ihren
genialen Song „Summer in the Circle-City“ einfach in die Recycling-Tonne,
obwohl vor Hitze halbtote Passanten gewiss auch in Städten mit
fünfstelliger Einwohnerzahl zu beobachten waren. Aber für einen
Nummer-eins-Hit mussten sie die Großstadt besingen, das war vorgeschrieben.
Andernfalls wäre dem Gitarristen die Hand abgefault.
Meine Kreisstadt wird derzeit geprägt von einer merkwürdigen Mischung aus
Touristen-Aktivismus und Sommer-Agonie. Skandinavier fahren verkehrt herum
durch Einbahnstraßen; wahrscheinlich, weil es solche
freiheitseinschränkenden Verkehrsregelungen bei ihnen zu Hause nicht gibt,
denn da ist ja alles besser.
Asiatische Reisende kommen ohne Auto und scheinen ein Fotoverzeichnis aller
Fachwerkhäuser anzulegen. Seit ich einmal zufällig auf einen japanischen
Comic stieß, in dem das Bettengeschäft meiner Kreisstadt einen wichtigen
Handlungsort darstellte, wundert mich das nicht mehr. Die Knipser sind
bestimmt Manga-Locationscouts.
Einheimische entspannen sich derweil lieber auf ihren Balkons als im
Straßencafé, falls sie nicht den um diese Jahreszeit beliebten
Verwandtschafts- oder Freundesbesuch erleiden. Dann stehen sie neben mir in
der Fußgängerzone und sagen ratlos: „Wir könnten noch in den Park gehen.
Oder mit der Rundfahrtbahn durch die Stadt fahren.“ Und der Besuch zuckt
die Achseln, als habe er mehr erwartet als eine Altstadt, die man in einer
halben Stunde komplett durchlaufen kann. Mein altmodisches Lieblingskino,
von dem inzwischen nur noch die Fassade steht, hinter der sich
Investorenquatsch abspielt, wird in der Regel den Auswärtigen nicht
vorgeführt. Ein kunstloses Graffiti ziert es: „Kauft mehr.“
Um das zu tun, fliehe ich in die klimatisierte Buchhandlung, wo aber ein
Schild behauptet: „Bücher sind Freunde.“ Ja, ich lese gern, aber Freunde?
Sind sie nicht manchmal auch Feinde oder langweilige Onkels, und ist der
Spruch nicht außerdem furchtbar öde, warum nicht mal: „Bücher sind
jedenfalls kein Investorenquatsch“?
Draußen laufe ich dann direkt in einen Stand beseligter Spinner, dessen
Beschriftung mich anherrscht: „Wo wirst du einmal die Ewigkeit verbringen?“
Hier jedenfalls nicht, schon weil eine kaum noch erkennbare
Akkordeonversion von „Rock Around the Clock“ mich hektisch durch die
Pommesdünste treibt. Der Musikant schafft es, im Angesicht des drohenden
Jenseits jegliche Time zu verlieren.
Ebenfalls die Zeit verloren haben die letzten Querdullis auf dem großen
Platz, die immer noch der Welt mitteilen müssen, dass wir in einer Diktatur
leben. Offenbar fühlen sie sich ziemlich wohl damit. Gäbe es nicht
vielleicht einmal ein neues Thema, mit dem man sich blamieren kann? Die
Frage, wo sie die Ewigkeit verbringen werden, scheint jedenfalls geklärt.
10 Aug 2022
## AUTOREN
Susanne Fischer
## TAGS
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