Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: 9-Euro-Reporter
> Regionalzüge sind nicht nur mit Alkohol zu ertragen, aber leidtun kann
> einem das Personal, das den ganzen Frust der Kunden abbekommt.
Bild: Ein Zug im Grünen
Wenn mich in letzter Zeit etwas von der Überflüssigkeit der Printmedien
überzeugt hat, war es die 9-Euro-Ticket-Reportage. Journalisten reisen mit
dem Regionalzug von Frankfurt nach Berlin, von München nach Sylt, von Dings
nach Bums. Erleben tun sie dabei gar nichts, aber leider schreiben sie
nicht: „Sorry, Leute, ich saß in einem Zug, war langweilig, deswegen räume
ich die Seite drei für eine profunde Analyse der deutschen Verkehrspolitik,
ihrer Abwege und Irrtümer.“
Nein, stattdessen steht da, dass die Züge voll sind und das entweder
gleichmütig oder aufgeregt ertragen wird. Vielleicht gab es sogar Gedrängel
auf dem Bahnhof? Damit hatte ja nun niemand rechnen können. Das muss in der
Zeitung stehen! Die Artikel tendieren in Sachen Informations- und
Unterhaltungswert Richtung minus unendlich. Getoppt werden sie darin nur
von den Fernsehberichten von der Tankstelle mit Tankrabatt. „Und, wie ist
es so, das Tanken hier?“ – „Ja, muss ja, ne?“
Als regelmäßige Regionalzugnutzerin – wie das auf dem Lande eben so ist –
könnte ich die Zugreportagen alle selbst schreiben, und zwar seit Jahren.
Die Fahrräder passen nicht rein, der Kinderwagen ist im Weg, der Fahrstuhl
auf dem Bahnhof funktioniert nicht. Das Klo sollte nur benutzen, wer nicht
lieber den Nothammer für die Fensterscheibe nimmt. Fußballfans grölen und
Schülerhorden stinken oder umgekehrt oder beides.
Trotzdem nein, alte FAZ, Regionalzüge sind nicht nur mit Alkohol zu
ertragen, denn in den besseren Regionalzügen herrscht Alkoholverbot. Was
ich in den ICEs auch empfehlen würde, aber dann blieben vermutlich die
Geschäftsreisenden weg, die die Bahn nur deshalb nutzen, weil das
Weißbierglas auf dem Erste-Klasse-Klapptischchen nicht so leicht umkippt
wie im Dienstwagen.
Mein Mitgefühl gilt also nicht den hippen City-Journalisten, die es zum
ersten Mal in einen Schnauferle-Zug geschafft haben und das für ein
Ereignis halten, sondern ausschließlich dem Personal in allen Zügen, das
den ganzen Frust der Kunden seit Jahren abbekommt. Man mag gar nicht mehr
hinsehen und zuhören. Jetzt auch noch die Neukunden, die sonst klaglos
wochenlang im Autostau herumstehen, nun aber mit Wichtigmiene rufen: „Drei
Minuten Verspätung, war ja klar!“
Trotzdem habe ich mir ein 9-Euro-Ticket gekauft, weil ein Freund meinte, es
sei doch schön, einmal Teil eines utopischen Sozialexperiments zu werden.
Der größte Mehrwert für mich ist, dass ich neuerdings in fremden Städten
den ÖPNV nutzen kann, ohne vorher ein mehrstündiges Tarifstudium zu
absolvieren – mit praktischer Prüfung an Automaten, deren Software vom
sadistischen Andi-Scheuer-Fanclub programmiert wurde.
Einfach losfahren, Leute, wie cool! Ich freue mich schon auf meine
Reportage aus den Verkehrsverbünden der Republik.
8 Jun 2022
## AUTOREN
Susanne Fischer
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Bahn
9-Euro-Ticket
Regionalverkehr
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Alkohol
taz.gazete
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Die Kuh-Inseln
Paare auf Reisen sind ein ganz besonderes Kapitel für sich – vor allem wenn
es auf die Eilande im Kanal zwischen Britannien und Frankreich geht.
Die Wahrheit: Summer in the Kreisstadt
Große Hits werden nur über Großstädte geschrieben. Wer aber besingt die
mittlere City mit Fußgängerzone und all ihren touristischen Attraktionen?
Alkoholverbot in Berliner Parks: Gar nicht sexy, die Grünen
In Berlin-Mitte wird über ein nächtliches Alkoholverbot in Parks
diskutiert. Dabei ist der Bürgermeister ausgerechnet ein Grüner.
Die Wahrheit: Toxische Susigkeit
Alles ist plötzlich „toxisch“, vor allem für Journalisten, die sich in das
neue Modewort so was von verliebt haben, dass es fast schon toxisch ist.
Die Wahrheit: Muttimäßig mit Macbook
Wie bloß mit dem verschnarchten Gebärerinnen-Ehrentag umgehen? Eine Mutter
ging jüngst mit Hafermilch und mehr in die Offensive.
Die Wahrheit: Trollgespräche
Einst war er ein Geschenk, jetzt wird er zu Last: Der kleine Troll, der
sich zu allem und jedem äußert, spätestens seit es das Internet gibt.
Die Wahrheit: Die Kalifin und die Thomasse
Weder Niedergeschlagenheit noch Doomscrolling hilft den Opfern Putins; als
angehende Weltkalifin könnte man etwas Sinnvolles arbeiten. Schön wär's.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.