# taz.de -- Fassadenbegrünung in Kreuzberg: Die grüne Hülle soll fallen | |
> Ein jahrzehntealter Wilder Wein, Biotop und natürlicher Hitzeschutz, soll | |
> wegen einer Sanierung geopfert werden. Naturschutzgesetze helfen da | |
> wenig. | |
Bild: Vielleicht sein letzter Sommer: Wilder Wein in der Glogauer Straße 22 | |
Berlin taz | In den letzten Wochen konnte man das Summen wieder im ganzen | |
Hof der Kreuzberger Marthagemeinde hören: Abertausende Wildbienen sammelten | |
Nektar in den Blüten des Wilden Weins, der die Rückseite des Vorderhauses | |
und den gesamten Seitenflügel des Backsteinensembles bedeckt. Jetzt ist es | |
ruhiger geworden, aber wenn die kleinen Weinbeeren reif sind, werden | |
unzählige Vögel in der Glogauer Straße 22 Nahrung finden. | |
Mindestens 60 Jahre alt dürfte der Wein sein, schätzt Kirchenmusiker Uli | |
Domay. Sein Arbeitsplatz ist das Kirchenschiff hinten im Hof – von der | |
Straße aus lassen nur die beiden Turmstummel auf dem um 1910 errichteten | |
Vorderhaus erahnen, dass sich ein religiöses Gebäude dahinter verbirgt. | |
Domay wohnt hier im vierten Stock, wie die anderen BewohnerInnen kann er | |
die Dachterrasse auf dem Seitenflügel nutzen. Sie ist komplett von Blättern | |
umhüllt, die sich im Herbst leuchtend rot färben. | |
Dieses Jahr vielleicht zum letzten Mal. Das Todesurteil für den Wilden Wein | |
ist schon längst gefällt, und im Oktober könnte es vollstreckt werden. Der | |
Grund: Das Bündel armdicker Stämme kommt direkt neben der Remise des | |
Nachbargrundstücks aus dem Boden. Die beherbergte früher eine Tischlerei, | |
vor einigen Jahren wurden Wohnräume daraus, nun sind dort die Wände feucht. | |
Zur Sanierung soll das einstöckige Gebäude von außen gedämmt werden – und | |
da ist der Wurzelstock der Weinpflanze im Weg. | |
## Schutz gegen die Sonneneinstrahlung | |
Die Nachricht kam im Februar. Die Hausgemeinschaft und viele | |
Gemeindemitglieder empfanden sie als Katastrophe – nicht nur, weil sie das | |
Fassadengrün wunderschön finden. Sie verweisen auf den ökologischen Wert, | |
auf die vielen Tiere, die davon leben, und die Bedeutung des Blattwerks, | |
das in immer heißeren Sommern Schutz gegen die Sonneneinstrahlung bietet. | |
Eine über Jahrzehnte gewachsene zweite Gebäudehaut – sollte man die im | |
Angesicht der Klimakrise einer kleineren Baumaßnahme opfern? | |
Pfarrerin Monika Matthias, Uli Domay und andere nahmen Kontakt mit dem | |
Bezirksamt auf. Das entschied in Gestalt der Unteren Naturschutzbehörde, | |
dass die Baumaßnahme nicht vor Oktober genehmigungsfähig ist. Bis dahin | |
muss der Eigentümer des Nachbargrundstücks oder die mit der Sanierung | |
beauftragte Firma Gutachten über die Bedeutung des Weins als Lebensraum von | |
Hymenopteren – „Hautflüglern“, also Bienen und Hummeln – und Vögeln | |
einholen. Aber selbst wenn diese Gutachten belegen, wie nützlich der Wilde | |
Wein für diese Tiere ist: Es sieht nicht gut für ihn aus. | |
## Ohne Schutzstatus | |
Die Rechtslage ist für Laien nicht gerade einfach zu überblicken. Als Art | |
genießt die Selbstkletternde Jungfernrebe, so der korrekte Name der | |
Pflanze, keinen besonderen Schutzstatus. Da aber die meisten Insekten und | |
Vögel diesen haben, stellt sich die Frage, ob Paragraf 44 des | |
Bundesnaturschutzgesetzes anzuwenden ist. Der verbietet, „Fortpflanzungs- | |
oder Ruhestätten“ geschützter Arten „aus der Natur zu entnehmen, zu | |
beschädigen oder zu zerstören“. Die Norm käme zur Anwendung, sollte sich | |
herausstellen, dass bestimmte Vögel, Haussperlinge etwa, zwischen den | |
Blättern und Zweigen brüten. | |
Aber auch das wäre noch lange nicht die Rettung: Denn das Gesetz sieht | |
viele Ausnahmen vor, die einen Eingriff genehmigungsfähig machen – darunter | |
die Beeinträchtigung der Gesundheit von Menschen oder Gründe „sozialer oder | |
wirtschaftlicher Art“. Noch weniger spricht rein rechtlich gegen eine | |
Ausnahmegenehmigung, wenn lediglich Paragraf 15 greift, der grundsätzlich | |
dazu verpflichtet, „vermeidbare Beeinträchtigungen von Natur und | |
Landschaft“ zu unterlassen. | |
Eine Ausnahmegenehmigung zieht zwingend sogenannte Ausgleichs- oder | |
Ersatzmaßnahmen nach sich, die der Verursacher – in diesem Fall der Bauherr | |
– zu leisten hat. Die entsprechenden Auflagen der Naturschutzbehörden | |
beschränken sich aber oft auf das Anbringen einiger Nistkästen oder eine | |
Neupflanzung an anderer Stelle. Dass das den ökologischen Verlust | |
keineswegs wettmacht, liegt auf der Hand. | |
Das Friedrichshain-Kreuzberger Naturschutzamt wollte sich auf Anfrage der | |
taz nicht inhaltlich äußern: Weil noch nicht alle Gutachten vorlägen, sei | |
„eine fachliche Einschätzung zum jetzigen Zeitpunkt abschließend nicht | |
möglich“, teilte die Pressestelle des Bezirks lediglich mit. | |
Aus dem Schriftwechsel mit den AnwohnerInnen, der der taz vorliegt, geht | |
allerdings hervor, dass das Amt wenig Chancen für einen vollständigen | |
Erhalt des Weins sieht. Immerhin legt es Wert auf die Feststellung, dass | |
auch nach Beginn der Baumaßnahme genau zu prüfen sei, ob tatsächlich das | |
gesamte Wurzelwerk oder nur Teile davon entfernt werden müssten. | |
## „Wie ein kleiner Wald“ | |
Caroline Seige pocht auf die Pflicht der Behörde, nicht nur Ausgleich oder | |
Ersatz sicherzustellen, sondern auch die Prüfung technischer Alternativen | |
bei der Remisen-Sanierung einzufordern. Die Naturschutzexpertin engagiert | |
sich in der AG „Artenschutz bei Bauvorhaben“ der NaturFreunde Berlin e.V. | |
und kennt sich mit solchen Konfliktlagen aus. Sie hält es zum Beispiel | |
keineswegs für ausgemacht, dass die vorgesehene Außendämmung die einzige | |
Möglichkeit ist, das Feuchtigkeitsproblem in den Griff zu bekommen. | |
„Nur wenn Alternativen dazu den finanziellen Rahmen der Bauherren komplett | |
sprengen würden, dürften sie als unzumutbar gelten. Das müsste aber erst | |
mal ermittelt werden“, sagt Seige. Für sie sind Fassadenbewüchse wie der | |
Wilde Wein der Marthagemeinde „richtige Powerpakete“ mit einer ökologischen | |
Funktion „fast wie ein kleiner Wald“. | |
Auch Ansgar Poloczek, Artenschutzreferent im Landesverband des NABU, betont | |
die Bedeutung großflächiger Fassadenbegrünungen, auch weil sie für | |
Verdunstungskühle und Luftaustausch sorgen. Efeu sei sogar noch wertvoller, | |
so Poloczek, „den kann man in seiner ökologischen Wertigkeit gar nicht | |
überschätzen“. Aber auch ihm ergeht es im Zweifelsfall nicht besser. | |
Besonderes Pech von Wildem Wein und Efeu: Sie können groß und alt wie Bäume | |
werden, sind aber keine. Deshalb greift bei ihnen die Berliner | |
Baumschutzverordnung nicht. Die ist nach Poloczeks Einschätzung zwar auch | |
„ein bisschen zahnlos“ und wird durch eine vorliegende Baugenehmigung meist | |
außer Kraft gesetzt, bietet aber doch einen etwas höheren Schutzstatus. Das | |
Land Berlin solle es in Betracht ziehen, besonders alte oder ausladende | |
Fassadenbegrünungen – auch als „stadtprägende Elemente“ – in die Vero… | |
aufzunehmen, meint Poloczek deshalb. | |
In der Glogauer Straße bleibt die Stimmung derweil gedrückt – und das | |
Unverständnis groß. In einer E-Mail an das Naturschutzamt drückten es | |
GemeindevertreterInnen vor Kurzem so aus: „Auf Ihrer Webseite befinden sich | |
hochglanzpolierte Maßnahmen zur Förderung von ‚bestäuberfreundlichen | |
Gestaltung von Hinterhöfen‘, ‚Wildbienenprojekten‘ und | |
‚Hofbegrünungsprogrammen‘. In unserer Gemeinde und im Kiez ist nicht | |
vermittelbar, wie locker ihr Amt der Vernichtung eines alten Lebewesens, | |
das so vielen Tieren Schutz und Nahrung bietet und das Klima positiv | |
beeinflusst, zustimmt – um ein paar Quadratmeter Styropor auf eine | |
Remisenwand zu kleben.“ | |
31 Jul 2022 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
## TAGS | |
Naturschutz | |
Berlin-Kreuzberg | |
Gebäudesanierung | |
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Vögel in der Stadt: Beim Nisten nichts Neues | |
Eine Anfrage der Grünen ergibt: Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften | |
legen sich beim Schutz von Gebäudebrütern nicht gerade ins Zeug. | |
Zustand der Berliner Kleingewässer: Wenn der Frosch im Schilf verstummt | |
Der „Kleingewässerreport“ des BUND stellt den Teichen und Tümpeln Berlins | |
ein mangelhaftes Zeugnis aus. Oft fehlt den Bezirken Geld für ihre Pflege. |