# taz.de -- Angriff von Identitären in Halle: Freispruch trotz massiver Gewalt | |
> Identitäre sollen in Halle drei Studierende attackiert haben – und werden | |
> freigesprochen. Das Gericht sieht Notwehr, die Nebenklage einen Skandal. | |
Bild: Hausprojekt der Identitären in Halle 2019 | |
HALLE taz | Es ist am Donnerstagnachmittag, als ein Lächeln über die | |
Gesichter der vier Identitären huscht. Soeben hat Richterin Kathleen | |
Aschmann im Amtsgericht Halle ihr Urteil über die Rechtsextremen verkündet. | |
Zwar sei nicht gänzlich auszuschließen, dass die Männer an dem Angriff auf | |
die drei Studierenden vor [1][ihrem einstigen Hausprojekt in Halle] | |
beteiligt waren, sagt Aschmann. Es sei ihnen aber eben auch nicht sicher | |
nachzuweisen. Und deshalb seien sie allesamt freizusprechen. | |
Es ist das Ende eines bemerkenswerten Verfahrens – und eines, das die Opfer | |
dieser Attacke hart treffen dürfte. Diese nehmen als Nebenkläger am Prozess | |
teil, sind am Donnerstag jedoch nicht im Saal. Ihre Anwälte aber zeigen | |
sich entsetzt und sprechen von einem „Skandal“. | |
Der Vorfall, um den es geht, ereignete sich bereits im März 2019 vor dem | |
damaligen Hausprojekt der Identitären in Halle. Der 2017 eröffnete | |
Vierstöcker, mit Veranstaltungssaal, Bar und Filmstudio, war ein neurechtes | |
Prestigeobjekt der Szene – und eine Provokation. Immer wieder kam es zu | |
Protesten gegen das Haus und auch zu Attacken von dort durch Identitäre, | |
die sich eigentlich Gewaltlosigkeit auf die Fahnen schrieben. | |
Der Angriff in der Nacht des 2. März 2019 war der wohl heftigste. Im Haus | |
fand damals eine Faschingsfeier statt. Einige Identitäre standen nach | |
Mitternacht rauchend und kostümiert davor auf der Straße. Laut eigenen | |
Angaben war es eine Verkleidung als Wildecker Herzbuben, laut der späteren | |
Opfern sah es nach den Protagonisten aus Clockwerk Orange aus – dem | |
Kubrick-Film, der brutale Gewalt zur Schau stellt. | |
## Mit Fäusten und Pfefferspray | |
Der Studierende Martin S. (Name geändert) kam damals mit zwei Bekannten an | |
dem Haus vorbei. Er habe sich schon länger am rechtsextremen Gebaren der | |
Identitären gestört und auch schon mal an einer Sitzblockade gegen sie | |
beteiligt, erklärte er vor Gericht. Auch bei der nächtlichen Begegnung habe | |
ihn aufgeregt, dass diese den öffentlichen Raum so in Beschlag nahmen. | |
Sie sollten verschwinden, rief er und ging auf sie zu – was zu einem ersten | |
Schlagwechsel führte. Dann habe er impulsiv reagiert, wie Martin S. | |
einräumte. Er riss ein Haustürschild ab und warf eine Mülltonne vors Haus. | |
Was folgte, war der Gewaltausbruch der Identitären. | |
Mit Fäusten und Pfefferspray attackierten die Identitären dann Martin S. | |
und seine Begleiterinnen. Der 27-Jährige wurde noch getreten, als er schon | |
am Boden lag. Seiner Begleiterin wurde eine Pfefferspraydose ins Gesicht | |
geschlagen, was eine Schnittwunde verursachte, die genäht werden musste und | |
Narben hinterließt. Ihre Freundin stürzte nach einem Stoß mit dem Gesicht | |
auf eine Bordsteinkante, wurde ohnmächtig. | |
Seit April saßen dafür nun die vier Identitären vor dem Amtsgericht Halle, | |
23 bis 32 Jahre alt. Unter ihnen sind die zumindest früheren Kader | |
Till-Lucas W., der bei der AfD auftrat und für das neurechte Sezession-Blog | |
schrieb, und Luca H., der sich in einem Identitären-Video selbst | |
„Führungsrollen“ zuschrieb. | |
## „Täter-Opfer-Umkehr“ | |
Im Prozess hatten sich alle vier auf Notwehr berufen: Martin S. habe die | |
Gewalt provoziert und sie sich nur gewehrt. Zu den Angriffen auf die | |
unbeteiligten Frauen aber schwiegen die Angeklagten allesamt. Ihre | |
Verteidiger – einer bei der AfD aktiv, ein anderer ein früherer | |
Rechtsrocksänger – forderten durchweg Freisprüche. Im Prozess beschimpften | |
sie Martin S. als „Störenfried“ und „Krawallmacher“, der wahrscheinlich | |
unter Drogen gestanden habe. Auch über die Opferanwälte ziehen sie hier, | |
nennen ihre Anträge „einen Dreck“. Richterin Aschmann lässt es geschehen. | |
Aber auch die Staatsanwältin fordert am Ende Freispruch. Auch sie sieht | |
Notwehr und kritisiert, dass die Opfer bei der Polizei zunächst nur von den | |
Angriffen der Identitären berichteten und nichts zu den Aktionen von Martin | |
S. ausgesagt hatten. | |
Richterin Aschmann folgt dem in ihrer Urteilsverkündung. Gerade die Gewalt | |
gegen die Frauen „sei traurig und nicht zu akzeptieren“, sagt sie. | |
Letztlich sei aber auch durch die widersprüchlichen Aussagen der Opfer | |
nicht mehr zu klären, ob und wie die Angeklagten sich an dem Angriff | |
konkret beteiligten. Auch sei eine Notwehrhandlung tatsächlich nicht | |
auszuschließen. Deshalb könne es nur Freisprüche geben, auch wenn am Ende | |
„vieles offen bleibt“, wie Aschmann betont, die ihre Urteilsverkündung | |
ausschließlich an die Angeklagten richtet und die Opferanwälte kaum eines | |
Blickes würdigt. | |
Carsten Ilius, Anwalt von Martin S., kritisiert das Urteil scharf. „Der | |
Prozess wurde sehr vorurteilshaft geführt und führte letztendlich zu einer | |
Täter-Opfer-Umkehr. Ein derartig zustande gekommener Freispruch ist ein | |
Skandal.“ Auch könne es nicht sein, dass die Identitären mit ihrem | |
Teilschweigen zu den Angriffen auf die Frauen durchkämen. Und Lukas Theune, | |
der eine der attackierten Frauen vertrat, betonte die massive Gewalt, | |
welche die Frauen erfahren hätten und unter der sie bis heute leiden | |
würden. | |
Ilius hatte in seinem Plädoyer zudem daran erinnert, wie die Identitären | |
damals eine „rechte Hegemonie“ um ihr Haus aufzubauen versuchten, teils mit | |
Quarzsandhandschuhen patrouillierten und sich Nachbarn bedroht fühlten. | |
Über Kampfsport im Haus sei auch Gewalt eingeübt worden. Und zu der | |
konkreten Tat hatte im Prozess ein Polizist von frischen Schürfwunden an | |
den Händen zweier Angeklagter berichtet, die er den Angriffen auf Martin S. | |
und die Frauen zurechnete. Dazu sagte Richterin Aschmann nichts. | |
Die Attacke war kein Einzelfall: Schon 2017 hatten zwei Identitäre aus dem | |
Haus zwei Männer mit Pfefferspray angegriffen – die sich als | |
Zivilpolizisten entpuppten. Hier gab es eine achtmonatige Bewährungsstrafe | |
und ebenso einen Freispruch. | |
Das Hausprojekt der Identitären musste letztlich Ende 2019 nach den | |
zahlreichen Gegenprotesten schließen. Und auch sonst befindet sich die | |
Bewegung, die vom Verfassungsschutz [2][als rechtsextrem eingestuft ist] | |
und vor Jahren noch mit der Besetzung des Brandenburger Tors für Aufsehen | |
sorgte, im Niedergang. Nennenswerte Aktionen finden nicht mehr statt, ihre | |
Social Media Kanäle sind gesperrt, der Verfassungsschutz zählte zuletzt nur | |
noch 500 Mitglieder. Den Freispruch ihrer vier Anhänger aber dürfte die | |
Gruppierung nun nochmal einmal feiern lassen. | |
22 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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