# taz.de -- Offener Brief aus der Ukraine: Kampf um ein gemeinsames Europa | |
> Ein offener Brief aus der Ukraine wendet sich an junge | |
> Vertreter:innen der deutschen Zivilgesellschaft. Es ist ein Appell | |
> für mehr Unterstützung. | |
Wir kommen aus verschiedenen Bereichen der ukrainischen Gesellschaft, unser | |
Spektrum reicht vom Unternehmenssektor bis zu Wissenschaft und Kunst. Das | |
Leben eines jeden von uns hat sich am 24. Februar geändert, als Russland in | |
einem großen Krieg die Ukraine überfiel. | |
Der Krieg in der Ukraine hat hitzige Debatten in der deutschen Gesellschaft | |
ausgelöst. Soll man der Ukraine Waffen liefern? Oder es nicht tun? Wenn | |
nicht, inwiefern soll man sich sonst einmischen? Und die Beziehungen zu | |
Russland – soll man sie aufrechterhalten? | |
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland und Intellektuelle | |
(hauptsächlich Angehörige der älteren Generation) rufen die Ukraine dazu | |
auf, “Realisten“ zu sein. Manchmal, mitunter sehr unverblümt, drücken sie | |
gar die Erwartung aus, die Ukraine sollte doch kapitulieren. Im Prinzip | |
sind sie bereit, uns zu opfern. Aber warum? Sie scheinen die große Vision | |
Europas, das sie einst aufbauten, vergessen zu haben. | |
Daher appellieren wir an euch, an die neue Generation deutscher | |
Führungspersönlichkeiten. In euren Firmen und Startup-Unternehmen, in eurem | |
Aktivismus und eurer Interessenvertretung, in der Politik und im Cyberspace | |
baut ihr ein modernes Deutschland und Europa auf. Jeden Tag ändert ihr die | |
Welt um euch herum. Ihr könnt euch noch nicht mit verbrecherischen | |
Kompromissen abfinden. Ihr begreift die Macht der Ideen. | |
Heute steht euer Land am Scheideweg. Der Kampf um die Vielfalt, neue | |
Technologien, eine Verringerung des CO2-Ausstoßes und eine gemeinsame | |
Zukunft geht einher mit der größten finanziellen Unterstützung eines | |
Landes, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Herzen Europas verübt. | |
Eine alte Politik hat dazu geführt, dass Deutschland wieder einmal „auf der | |
falschen Seite“ in die Geschichte eingehen wird, nicht als eines der | |
führenden Länder im Rahmen des europäischen Projektes im 21. Jahrhundert, | |
sondern als einer der Sponsoren des terroristischen Regimes der Russischen | |
Föderation. | |
Doch wir wollen hier jetzt nicht moralisieren. Wir möchten Antwort auf die | |
einzige Frage geben, die heute von Bedeutung ist. Diese Antwort wird euch | |
helfen, unseren Standpunkt zu verstehen. Und, so hoffen wir, werdet auch | |
ihr Position beziehen. Die Frage lautet: Wofür kämpfen wir Ukrainer und wir | |
Europäer in diesem Krieg? | |
## Für ein offenes Europa | |
Europa ist ein Synonym für Offenheit und eine Gesellschaft, in der | |
Meinungsfreiheit und Vielfalt der Standpunkte von Bedeutung sind, das | |
Individuum nicht unterdrückt wird, wo man sich artikulieren kann, das ist | |
es, wonach die Ukraine strebt. Das ist es, was Russland uns nicht verzeihen | |
kann. Russlands Expansion ist die Expansion einer geschlossenen Welt. | |
Russland träumt von einer in mehrere konkurrierende Einflussbereiche | |
aufgeteilten Menschheit, in der einer dieser Bereiche der Tyrannei geopfert | |
wird. | |
Das Europäische Projekt war immer eine Alternative zu diesem | |
internationalen und politischen Darwinismus. Trotz der Aufrufe zur | |
Unterwerfung haben die Ukrainer sich für die Alternative dazu entschieden. | |
Wir kämpfen für ein offenes Europa, das ein Ort ist, wo nicht jeder gegen | |
jeden Krieg führt, sondern wo es vielmehr individuellen und kollektiven | |
Wohlstand für alle Menschen guten Willens gibt. | |
## Für ein Europa in Sicherheit | |
Europa hat viele furchtbare Lektionen aus den totalitären Regimen des 20. | |
Jahrhunderts gezogen. Die Lektionen wurden danach in modernen Begriffen der | |
Menschenrechte und Unantastbarkeit der Person in eine Form gebracht. Das | |
System der internationalen Sicherheitsinstitutionen ruht auf diesen | |
Begriffen. Die Besetzung der Krim durch Russland und der Beginn der | |
russischen Aggression im Donbas zeigten erstmals, wie ineffektiv diese Form | |
ist. Über beides haben die westlichen politischen Eliten hinweggesehen. | |
Viel zu verführerisch ist doch die Maxime business as usual. Das | |
langjährige Verschweigen der Wirklichkeit hat dazu geführt, dass Russland | |
Gemetzel an Zivilisten veranstaltet und andere Länder mit Atomwaffen | |
bedroht. Heute wird Europa nicht durch formale Einrichtungen beschützt, | |
sondern von ukrainischen Soldaten aus Fleisch und Blut. Die Ukraine ist zum | |
Schutzschild Europas geworden. Nicht weil es ihr Schicksal ist, sondern | |
weil sie sich dazu entschieden hat. Wir glauben an ein Europa in | |
Sicherheit. Wenn Europa bedroht wird, verteidigen wir es. | |
## Für ein Europa der Vielfalt | |
Die Anerkennung kultureller, religiöser, nationaler und geschlechtlicher | |
Andersartigkeit war einer der wichtigsten Marksteine des europäischen | |
Projektes. Dank seiner schweren Erfahrungen hat Europa gelernt, diese | |
Unterscheidungen zu erkennen, zu kommunizieren und zu institutionalisieren. | |
Die russische Aggression bringt all diese Errungenschaften in Gefahr. Sie | |
ruht auf einer Ideologie, die bestimmte Länder bevollmächtigt, selbst zu | |
entscheiden, welches Land das Recht auf Existenz hat. Laut dieser Ideologie | |
haben bestimmte Menschen das Recht, anderen zu diktieren, was sie sagen und | |
wie sie sich artikulieren dürfen. | |
Es wird von der russischen Propaganda offen dazu aufgerufen, von allem | |
Andersartigen „zu säubern“. Heute sind damit das ukrainische Volk und die | |
ukrainische Kultur gemeint. Doch schon werden derartige Drohungen auch | |
Richtung Westen und Europa laut. Der Kampf der Ukraine ist kein Konflikt an | |
der Peripherie, der aus politischen oder historischen Streitigkeiten | |
entstanden ist. Es wird gekämpft für das Recht eines jeden, anders zu sein | |
und in Würde zu leben. | |
## Für ein digitales Europa | |
Digitale Technologien sind die treibende Kraft der europäischen | |
Vereinigung. Während die traditionellen Institutionen kolossale Ressourcen | |
erforderten, sind die digitalen Netzwerke zu einem Eisbrecher geworden, der | |
soziale, politische und ideologische Hindernisse überwindet. Der hohe Stand | |
der Computertechnik ist Europas Lingua franca. Dank dieser Technik ließ | |
sich die grausame Natur der russischen Aggression nicht verheimlichen, | |
ungeachtet der zahlreichen Versuche des Putin-Regimes, Falschinformationen | |
zu verbreiten. | |
In diesem Krieg sind die Ukrainer mit den Europäern zu digitalen | |
Diplomaten, Kriegern und Politikern geworden. Wir wehren gemeinsam | |
russische Cyberangriffe ab, wir gründen neue Unternehmen, die ihren | |
Beitrag zu mehr Solidarität leisten, wir machen gemeinsam Fundraising für | |
Flüchtlinge und Soldaten. Wir kämpfen für einen gemeinsamen digitalen Raum. | |
Dieser digitale Raum ist von besonderer Bedeutung in einer Zeit, in der | |
Russland und einige andere Länder versuchen, das Internet zu fragmentieren, | |
indem man es in zensierte Enklaven aufteilt. | |
## Für ein umweltfreundliches Europa | |
Genau jetzt, da die Menschheit vor einer der enormsten Herausforderungen | |
steht, hat sich Russland auf einen aggressiven Krieg eingelassen. Der Krieg | |
hat sich negativ auf die Bekämpfung des Klimawandels ausgewirkt. Doch die | |
Umweltkrise ist nach wie vor sehr drängend. Mehr noch, wegen der von | |
Russland geführten Kampfhandlungen besteht die Gefahr der Vernichtung | |
zahlreicher Umwelt- und Ökosysteme. Europa wird mehrere Jahrzehnte | |
brauchen, um diese Wunden zu heilen. | |
Wir haben nicht das Recht, auch nur eine Atempause zu nehmen in unserem | |
Kampf für den Planeten, für Spaceship Earth. Ungeachtet dessen, dass | |
Russland sich so verhält, als existierte die „russische Welt“ nicht auf | |
diesem Planeten und als würde Russland die CO2-Bilanz nichts angehen. Die | |
Ukrainer wollten nie eine Extrawelt für sich. Wir stehen immer für den | |
Erhalt dieser einen Welt ein, so wie sie ist, die Welt, in der wir | |
zusammenleben. | |
## Für ein gerechtes Europa | |
Der von Russland geführte ungerechte Krieg bringt uns zurück zu der Frage, | |
die der europäischen Kultur zugrunde liegt, und zwar die der Gerechtigkeit. | |
Ist Gerechtigkeit möglich? Es war mal eine Zeit, in der Europa geantwortet, | |
ja versprochen hat: Ja, Gerechtigkeit ist möglich. | |
Und in diesen Stunden kämpft die Ukraine für die Umsetzung dieses | |
Versprechens, dafür, dass man gegen Regeln nicht verstoßen darf, indem man | |
auf das „Recht des Stärkeren“ setzt. Dass man Geschichte nicht vertuschen | |
und mit historischen Wunden nicht manipulieren darf, dass man keine | |
Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen und dass man nicht business as | |
usual betreiben darf, in dem man die Vorteile nutzt, die in Europa | |
geschaffen wurden. Wir kämpfen für ein Europa von gleichberechtigten, | |
freien und solidarischen Europäern, für ein gerechtes Europa. | |
Gerechtigkeit verlangt Mut. Ihr wisst aus eigener Erfahrung, was Mut | |
bedeutet – was es heißt, das zu tun, was niemand sonst getan hätte, was es | |
heißt, zu führen, Mauern zu durchbrechen, was es heißt, diejenigen zu | |
überzeugen, die zu überzeugen unmöglich schien. | |
Das, worum wir kämpfen, ist die Zukunft eines freien Europas. Seid euch | |
selbst treu, entscheidet euch für die richtige Seite und handelt – jetzt. | |
Unterzeichner:innen: Maria Berlinska, Freiwillige und Frauenrechtlerin; | |
Tymofii Brik, Soziologe, Rektor; Anna Bulakh, Sicherheits- und | |
Technologieexpertin; Iwan Werbyzkyj, Leiter eines analytischen Zentrums; | |
Liubov Halan, Gründerin einer Freiwilligeninitiative, Mykola Davydiuk, | |
Politologe; Volodymyr Kadygrob, Unternehmer; Alewtina Kakhidze, Malerin; | |
Anton Tarasyuk, Philosoph; Mykhajlo Tkach, Journalist; Natalja Shapoval, | |
Ökonomin | |
15 Jun 2022 | |
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