# taz.de -- Fetisch Straßenbau: Eine Autobahn für Frau Holle | |
> Die A44 in Nordhessen ist die teuerste Autobahn Deutschlands. Auch nach | |
> jahrzehntelanger Planung ist sie noch lange nicht fertig. | |
Bild: Wird immer teurer: A44 von Kassel nach Eisenach, Baustelle einer Brücke … | |
Kassel taz | Die Autobahn der Superlative kommt erst einmal ziemlich normal | |
daher. An der Auffahrt Hessisch Lichtenau West stimmt ein blaues Schild | |
verheißungsvoll auf das Ziel ein: Eisenach. Und schon schluckt der erste | |
Tunnel die wenigen Fahrzeuge an diesem Donnerstagnachmittag und spuckt sie | |
dahinter wieder in die hügelige Landschaft Nordhessens aus, die aussieht, | |
als wolle die Farbe Grün hier feierlich ihr ganzes Spektrum präsentieren. | |
Links türmt sich der Hohe Meißner auf, der höchste Berg in der Region mit | |
gut 750 Metern. Es heißt, dort beginne das Reich von Frau Holle. Es wird | |
dunkel, das Radio rauscht, wieder ein Tunnel. Danach folgen in kurzen | |
Abständen drei Grünbrücken, von denen der Waschbär an der Mittelleitplanke | |
offensichtlich keine erwischt hat. Nach ein paar sanften Kurven ist dann | |
schon wieder Schluss. | |
Die [1][A44], die teuerste Autobahn Deutschlands, vielleicht sogar der | |
Welt, ist bisher nur 17 Kilometer lang. Das Projekt hat bereits über 2,7 | |
Milliarden Euro verschlungen. Das macht knapp 39 Millionen Euro für jeden | |
Kilometer der gesamten Neubaustrecke, rund sechsmal so viel wie normal. | |
Experten gehen davon aus, dass es noch viel teurer wird. Wenn die A44 von | |
Kassel bis Eisenach irgendwann fertig ist, wird sie 64,3 Kilometer lang | |
sein mit 15 Brücken und 13 Tunneln, einer davon mit 4,2 Kilometern der | |
zweitlängste Autobahntunnel Deutschlands. Die Strecke windet sich durch | |
enge Täler, dicht vorbei an Fachwerkdörfchen, von denen die Autofahrer | |
hinter meterhohen Wällen und Schallschutzmauern nichts mitbekommen. | |
„Wichtiger Lückenschluss“, „Motor für die regionale Wirtschaft“, sage… | |
Befürworter der A44, deren Zahl zurückgeht. „Irrsinnig“, „völlig | |
überflüssig“ und „peinlich“, sagen die Gegner, deren Zahl wächst. Dass | |
irgendwas mit dieser Autobahn nicht stimmt, wird klar, wenn man versucht, | |
die Geschichte der Planung nachzuvollziehen. | |
Die ursprüngliche Idee einer Ost-West-Verbindung hatten 1935 die | |
Nationalsozialisten. Die Trasse sollte weitgehend gerade verlaufen. Es | |
wurde gerodet, Teile einer Brücke gebaut. Die steht noch, einsam im | |
Söhrewald zehn Kilometer südöstlich von Kassel. Die Leute nennen sie | |
„So-da-Brücke“, weil sie einfach so da steht. | |
Rainer Böhm kennt die Brücke und die Geschichte der A44 genau. Mehrere | |
Ordner mit Plänen, Protokollen, Zeitungsartikeln und Gutachten hat der | |
pensionierte Ingenieur gesammelt. Böhm war ab 1969 Planungschef im | |
Straßenbauamt Hessen Nord. Zu diesem Zeitpunkt lagen dort die Pläne für die | |
A44 wieder auf dem Tisch. Doch dem Projekt wurde die Dringlichkeit | |
abgesprochen. Der [2][Werra-Meißner-Kreis], durch den die Straße laufen | |
sollte, war damals Zonenrandgebiet, ein toter Winkel für Investoren und | |
Infrastrukturplaner. | |
Mit der Grenzöffnung änderte sich das schlagartig. Plötzlich rollten Autos | |
durch die Ortschaften. Das war die Stunde von [3][Wendepolitiker Günther | |
Krause (CDU)]. Unter Sause-Krause als Bundesverkehrsminister wurden die | |
Verkehrsprojekte Deutsche Einheit beschlossen. Der Neubau der Autobahn 44 | |
zwischen Kassel und Eisenach war die Nummer 15 von insgesamt 17. Der | |
damalige, aus Kassel stammende hessische Ministerpräsident Hans Eichel | |
(SPD) war nicht begeistert. Seine rot-grüne Landesregierung hielt einen | |
dreispurigen Ausbau der B7 mit Ortsumgehungen für ausreichend. | |
Nach einigem Hü und Hott haute Krause auf den Tisch – und die Autobahn war | |
[4][beschlossene Sache]. Kostenpunkt damals: umgerechnet 460 Millionen | |
Euro. Wieso es letztendlich auf die jetzige Trasse parallel zur B7 | |
hinauslief durch den „ökologisch und geografisch besonders schwierigen | |
Planungsraum“, wie es das Bundesverkehrsministerium ausdrückt, ist auch für | |
Straßenplaner Rainer Böhm ein Rätsel. Er zuckt die Schulter: „Die Straße | |
verläuft an der falschen Stelle.“ | |
Ginge es nach [5][Wolf von Bültzingslöwen], gäbe es die A44 gar nicht. Von | |
seinem Wintergarten schaut er auf Fliederbüsche und Obstbäume. Die Autobahn | |
schlängelt sich fünf Kilometer weiter unten im Tal. Genutzt hat er sie noch | |
kein einziges Mal. „Als wir von Frankfurt hier an den Meißner gezogen sind, | |
wollten wir die Ruhe genießen“, sagt Bültzingslöwen. Stattdessen wälzte er | |
als BUND-Aktivist und Mitglied einer Bürgerinitiative gegen den A44-Neubau | |
seitenlange Gutachten, schrieb Briefe, Anfragen, nahm an Anhörungen teil, | |
fuhr zu Gerichtsverhandlungen, ließ sich beschimpfen. Jahrelang. | |
„Jetzt haben wir das Ding trotzdem.“ Frustriert? „Nee“, sagt der | |
pensionierte Tischler. „Okay, gemessen an unserer Maximalforderung „Keine | |
A44“ haben wir maximal verloren, aber durch unsere Klagen wurden Standards | |
für Umwelt- und Klimaschutz angehoben.“ | |
Befürworter der A44 kreiden Naturschützern immer wieder an, sie seien | |
verantwortlich dafür, dass der ganze Bau so lange dauert und immer teurer | |
würde. Bültzingslöwen lacht. „Das mit der Verzögerung stimmt vielleicht | |
sogar an manchen Stellen.“ Was die Kosten angehe, hätte der BUND den | |
Planern in manchem Punkt den „Hintern gerettet“. Ein vom BUND in Auftrag | |
gegebenes Gutachten hatte gezeigt, dass bei einem der Tunnel der | |
Grundwasserspiegel stärker sinkt, als die Planer berechnet hatten. Der | |
Tunnel wurde daraufhin in eine Art Trog gelegt, um zu verhindern, dass die | |
Fahrbahn in Zukunft aufschwemmt und somit kaputtgeht. | |
Die Pannenliste der A44 ist mittlerweile fast so lang wie die der Affären | |
und Betrügereien von Ex-Minister Günther Krause. Da ist zum Beispiel der | |
Tunnel, der unter dem Dorf Küchen verläuft, teilweise nur wenige Meter | |
unter Wohnhäusern. Nach Sprengungen sackten Häuser ab, andere bekamen | |
Risse, 22 von 120 Wohnhäusern sind beschädigt. Die hessische Behörde | |
[6][Hessen Mobil], die den Bau leitete, musste Entschädigungen zahlen und | |
vier kaputte Häuser aufkaufen. Man sei beim Bau auf Gesteinsarten | |
getroffen, die man so nicht erwartet habe, sagte 2014 Reinhold Rehbein, | |
A44-Projektleiter von Hessen Mobil. „Überraschungen“ könne man trotz | |
Probebohrungen nie ganz ausschließen. | |
Unter den 13 geplanten Tunneln warten weitere Überraschungseier. So | |
verläuft der Hirschhagener Tunnel unter dem Gelände einer früheren | |
Sprengstofffabrik der Nationalsozialisten. Während des Baus kam heraus, | |
dass das abgesenkte Grundwasser durch Rückstände der Sprengstoffproduktion | |
verseucht war. Das Wasser wurde gesäubert und in das Flüsschen Losse | |
weitergeleitet. Im Osten Richtung Eisenach sind einige Tunnel noch nicht | |
gebaut, die Kostenkalkulation bei manchen ist noch völlig veraltet, von | |
möglichen geologischen Überraschungen mal ganz abgesehen. | |
Im Ort Hoheneiche, an dem die Autobahn direkt entlangführt, hat der Lärm | |
durch den Lärmschutzwall zugenommen. Davor liegen in dem engen Tal nämlich | |
eine Bundesstraße und eine gut frequentierte Bahnstrecke. Die Geräusche | |
prallen jetzt an dem berghohen Autobahnwall ab und schallen lauter ins Dorf | |
zurück. | |
Ein leises Verkehrsrauschen vernimmt man zwar im Stiftswald südöstlich von | |
Kassel auch, aber das wird vom Rauschen der mächtigen Eichen geschluckt, | |
für die man zwei, drei Erwachsene braucht, um sie zu umarmen. An manchen | |
der Stämme sind blau-weiße Markierungen, die zukünftige Trasse des letzten | |
Teilstücks der A44. Vielleicht: Unterhalb des Stiftswalds liegt Kaufungen, | |
quasi das gallische Dorf des Autobahnprotests. Seit Jahrzehnten wird hier | |
gegen den Bau gekämpft. „Hätte mir jemand vor dreißig Jahren gesagt, dass | |
es hier heute immer noch keine Autobahn gibt, hätte ich laut gelacht“, sagt | |
[7][Claus Brechmann, Aktivist und BUND-Sprecher aus Niederkaufungen.] | |
Der Faktor Zeit steht noch auf der Seite der Autobahngegner. Gegen die | |
vorgesehene Trasse von der Anschlussstelle Kassel-Ost durch den Stiftswald | |
entlang des Flüsschens Losse sind über 2.000 Einwände beim | |
Regierungspräsidium Kassel eingegangen. Die müssen geprüft werden. Das | |
dauert. „Vielleicht kriegen wir das Planungsjubiläum von 100 Jahren ja noch | |
voll“, scherzt Jona Königes von der [8][Bürgerinitiative „Keine A44 – | |
Verkehrswende jetzt“]. Es ginge jetzt darum zu mobilisieren, die BI | |
unterstützt auch die Protestaktionen von Aktivist*innen, die den | |
Stiftswald besetzen wollen. „Unsere Hoffnung besteht darin, dass vielleicht | |
noch ein Umdenken stattfinden wird“, sagt Brechmann. | |
Ein Expertengutachten war schon 2015 zu dem Schluss gekommen, dass die A44 | |
unnötig ist: weil alternative Strecken wie die A38 oder die A4 gebaut | |
wurden, weil die prognostizierte Verkehrsbelastung nicht eingetreten ist, | |
weil die Kosten unverhältnismäßig sind. Seit 18 Jahren wurden für die A44 | |
weder Bedarf noch Wirtschaftlichkeit geprüft. Kritiker vermuten, dass die | |
A44 heute nie genehmigt würde. | |
Doch das mit der Hoffnung ist so eine Sache: Wenn einmal ein Projekt im | |
Bundesverkehrswegeplan steht, dann wird daran nicht mehr gerüttelt. | |
13 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deges.de/projekte/projekt/vde-15-a44/ | |
[2] https://www.werra-meissner-kreis.de/ | |
[3] /Ex-Politiker-im-Dschungelcamp/!5649978 | |
[4] https://gruene-lossetal.de/unsere-themen/a44/ | |
[5] https://www.bund-wmk.de/ueber-uns/ | |
[6] https://mobil.hessen.de/ | |
[7] https://www.kommune-niederkaufungen.de/wp-content/uploads/2021/04/24.4.-Kic… | |
[8] https://www.keinea44.de/pressespiegel/ | |
## AUTOREN | |
Juliane Preiß | |
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