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# taz.de -- Getötete Afghanin in Berlin: Unterschätztes Gewaltpotenzial
> Auf offener Straße wird eine 31-Jährige erstochen. Immer deutlicher wird:
> Das Opfer wurde nicht ausreichend vor ihrem Ex-Mann geschützt.
Bild: Blumen liegen an der Stelle, an der eine sechsfache Mutter in Pankow mit …
Berlin taz | Von einer großen persönlichen Betroffenheit sprach
Polizeipräsidentin Barbara Slowik vergangenen Montag im Innenausschuss des
Abgeordnetenhauses. „Es ist kaum zu ertragen, so eine Gewalttat nicht
verhindert haben zu können“, sagte sie. Denkbar sei, dass der Polizei
Fehler in dem Fall unterlaufen seien. Es sei deshalb eine interne
Untersuchung eingeleitet worden.
Der Tod der 31-jährigen Afghanin Zohra Mohammed Gul, Mutter von sechs
Kindern, beschäftigt Behörden und Öffentlichkeit gleichermaßen. Am
kommenden Sonntag (siehe Kasten) ist die Tat einen Monat her: Dem Vernehmen
war Gul am 29. April gegen 9 Uhr auf dem Weg zum Postbriefkasten, der sich
rund 100 Meter entfernt von der Flüchtlingsunterkunft im Bezirk Pankow
befindet, in der die Frau mit ihren Kindern lebte; das jüngste Kind ist 2,
das älteste 13 Jahre alt.
Nahe des Briefkastens soll ihr der 42-jährige Ex-Mann aufgelauert und sie
niedergestochen haben. Die Frau verstarb am Tatort. Der mutmaßliche Täter
wurde kurz darauf festgenommen und sitzt seither in Untersuchungshaft. Der
Tagesspiegel wollte nach der Tat von Familienangehörigen der Frau erfahren
haben, dass der Tatverdächtige zu seinem Schwager zuvor gesagt haben soll:
Die Tatsache, dass sich seine Frau von ihm getrennt habe, sei für ihn so,
als würde sie fremdgehen.
Zohra Mohammed Gul lebte seit zwei Jahren in Berlin. In den Monaten vor
ihrem Tod hatte sie zwei Strafanzeigen gegen ihren gewalttätigen Mann
erstattet. Im Zuge der dazu erfolgten polizeilichen Vernehmungen wurde ein
dritter Fall von häuslicher Gewalt bekannt.
Warum nur wurde die Frau nicht ausreichend geschützt?
Auch die in Oldenburg lebende Schwester der Getöteten fragt sich das. Nach
der Tat hatte sie sich an die [1][Frauenorganisation Zora] gewandt und in
einem offenen Brief schwere Vorwürfe gegen die Berliner Behörden erhoben:
Obwohl Gul die Behörden über ihre Lage informiert habe, sei ihr
ausreichender Schutz verwehrt worden. Sie sei nicht die Erste, der das
widerfahren sei, heißt es in dem von Zora mitverfassten Schreiben. Erklären
könne man das nur „mit der zynischen Geringschätzung des Lebens von Frauen
mit muslimischem Migrationshintergrund“.
## Der öffentliche Druck wächst
Dass der Fall nun polizeiintern untersuchte werde, habe man zur Kenntnis
genommen, sagte Ava Moayeri von Zora am Freitag zur taz. Aber nur, weil der
öffentliche Druck so groß geworden sei, geschehe das, meint Moayeri. Zora
fordere eine Untersuchung durch eine unabhängige Stelle. Aber auch
strukturell gebe es Veränderungsbedarf. Es existierten viel zu wenig
Hilfsangebote für muslimische Frauen in Not, zumal wenn sie mehrere Kinder
hätten.
Nach Informationen der taz hat Zohra Gul durchaus Hilfe erfahren. Zumindest
der Sozialdienst der Flüchtlingsunterkunft in Pankow soll sich seit
Bekanntwerden des ersten Gewaltvorfalls intensiv um sie gekümmert haben.
Bekannt ist mittlerweile das: Am 27. Februar hatte Gul beim
Sicherheitsdienst des Heims angezeigt, von ihrem Ex-Mann geschlagen worden
zu sein. Die Polizei kam ins Heim und nahm Guls Strafanzeige auf. Das Heim
erteilte ihrem Ex-Mann daraufhin sofort Hausverbot und verwies ihn an die
Soziale Wohnungshilfe des Bezirks.
Wo er seither lebte und an welchem Ort er Gul erneut attackierte, ist der
taz nicht bekannt. Laut Polizei hatte Gul am 12. März eine zweite
Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen ihn erstattet. Im Zuge ihrer
polizeilichen Vernehmung zu den beiden Vorfällen kam am 17. März ein
dritter Vorfall zur Sprache.
Laut Polizei wurde das Jugendamt Pankow am 18. März von den Vorgängen
informiert. Das habe dann einen Antrag auf Schutzanordnung beim
Familiengericht gestellt. Schutzanordnung bedeutet, dass gegen den Ex-Mann
ein Kontakt- und Näherungsverbot erlassen wird.
Die Berliner Zeitung berichtete in ihrer Freitagsausgabe, dass der Antrag
beim Familiengericht erst Mitte April gestellt worden sei. Woran es lag,
dass das Gericht diesen Antrag bis zu dem Tod der Frau trotz gebotener Eile
nicht entschieden hat, bleibt ein großes Fragezeichen.
Traurige Wahrheit, aber das nur am Rande: Auch ein Näherungsverbot ist
nicht unbedingt ein Allheilmittel gegen gewalttätige Ex-Partner. Immer
wieder kam es vor, dass sich diese auch von Schutzzonen nicht abhalten
ließen, den Frauen nachzustellen, sie zu bedrohen oder gar zu töten. Es
genügt zu wissen, wo die Frau einkaufen geht, auf welchen Spielplätzen die
Kinder spielen. Größere Sicherheit bietet der Umzug in einen anderen Bezirk
oder, noch besser, in eine andere Stadt.
## Das Angebot für ein Zimmer im Frauenhaus war da
Der Sozialdienst soll Gul durchaus in Richtung eines Wohnungswechsels
beraten haben, erfuhr die taz. Auch eine Beratung auf Farsi soll Gul, die
wenig Deutsch sprach, angeboten worden sein. Konkret habe das Angebot eines
Frauenhauses vorgelegen und auch das, in eine andere Flüchtlingsunterkunft
zu ziehen.
Der Einzug in das Frauenhaus hätte allerdings bedeutet, dass sich die
Mutter von ihrem 13-jährigen Sohn hätte trennen müssen. Männliche
Jugendliche dürfen in Frauenhäusern in der Regel nicht wohnen.
Einen Tag vor ihrem Tod soll die Wohnungshilfe des Bezirks Gul dann noch
eine Wohnung angeboten haben, die für die siebenköpfige Familie aber
deutlich zu klein gewesen sei. Unter Abwägung aller Umstände habe sich Gul
für einen Verbleib in dem Heim entschieden – wegen ihrer Kinder, heißt es.
Ein Wegzug hätte bedeutet, die sechs Kids aus Kita und Schule zu reißen und
sämtliche Kontakte abzubrechen. Dieser Preis sei ihr zu hoch gewesen.
Im Nachhinein scheint es so, dass nicht nur das Umfeld, sondern auch die
Betroffene selbst das Gewaltpotenzial des Ex-Partners unterschätzt haben.
Aber auch das wäre kein Einzelfall.
Auch die [2][34-jährige Afghanin Maryam H.] hatte mehrfach geäußert, dass
sie ihren Brüdern nicht zutraue, dass sie ihr etwas antun würden. Die
beiden Männer müssen sich zurzeit, wie berichtet, wegen Mordes der
Schwester vor Gericht verantworten.
Auch Maryam H., Mutter von zwei Kindern, hatte sich in Berlin emanzipiert
und von ihrem gewalttätigen Mann getrennt. Fatal wäre, wenn sich bei
afghanischen Flüchtlingsfrauen nun die Botschaft festsetze: Wenn ich mich
emanzipiere und von männlichen Angehörigen bedroht werde, wird mir von den
Behörden nicht geholfen – so verlautet es aus Fachkreisen, die auf dem
Gebiet tätig sind. Es brauche dringend andere Strukturen: mehr Plätze in
Frauenhäusern etwa, auch für die älteren Söhne. Auch für die Ex-Männer
müsse es Beratungsangebote geben, um im Vorfeld Gewalteskalationen zu
verhindern.
22 May 2022
## LINKS
[1] https://zora-online.org/wer-sind-wir/
[2] /Prozess-um-Mord-an-Afghanin/!5849715
## AUTOREN
Plutonia Plarre
## TAGS
Polizei Berlin
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