# taz.de -- Europa und Ukraine-Krieg: Wettbewerb der Arroganz | |
> Die Bürger sind solidarischer und vernünftiger als die Staaten. Unter | |
> denen herrscht ein unguter Wettbewerb darüber, wer moralisch überlegen | |
> ist. | |
Bild: Es geht um gegenseitige Hilfe, manchmal auch um ein Treffen zum Kaffee in… | |
Vor ein paar Tagen wurden wir in der Berliner U-Bahn von einer Frau | |
angesprochen. Sie fragte, wie man zum Alexanderplatz kommt. Lena – so ihr | |
Name – war Ukrainerin, sie kam in der ersten Märzwoche in Berlin an, ganz | |
allein. Da sie einen starken Akzent hatte, wechselten wir zu unserem eher | |
eingerosteten Russisch und erklärten, dass unsere Generation in Polen die | |
Sprache nur in der frühen Kindheit gelernt hatte. Nach 1989 musste niemand | |
mehr „bukvy“, das [1][kyrillische Alphabet], studieren. „Ich danke Polen | |
und seinem ganzen Volk“ – sagte sie gerührt. Und sie war dankbar für die | |
Hilfe Deutschlands. | |
Das ist das Berlin von heute, das ist Mittel- und Osteuropa. Und so sieht | |
der [2][Krieg in der Ukraine] auf einer höchst individuellen, persönlichen | |
Ebene aus. Es geht um gegenseitige Hilfe, um den Austausch von | |
Telefonnummern, manchmal auch um ein Treffen zum Kaffee mit jemandem, der | |
allein in einer fremden Stadt lebt. Sowohl die Polen als auch die Deutschen | |
zeigen Solidaritätseifer. | |
Anders sieht es aus, wenn es um die Beziehungen zwischen Ländern geht. Mehr | |
als siebzig Tage sind seit Kriegsbeginn vergangen, und die Stimmung wandelt | |
sich. Noch vor einem Monat, als der Krieg in der Ukraine noch etwas Neues | |
war, zeigten sich, transportiert über die Medien, kollektive Emotionen. Der | |
Krieg war ein Katalysator für die kollektive Angst. | |
In Osteuropa hat diese Angst eine existenzielle Dimension. Die Ukraine, | |
aber auch Polen und die baltischen Staaten fürchten um ihre Existenz. Die | |
Geschichte des 20. Jahrhunderts hat ihnen gezeigt, dass sie verschwinden | |
können. Der Krieg erinnert sie an die verschiedenen Gesichter des | |
mindestens 300 Jahre alten russischen Imperialismus in der Region. | |
Zarismus, Kommunismus und [3][Putinismus verschmelzen] zu einer einzigen | |
Bedrohung. Die westeuropäischen Länder hingegen dachten bis vor Kurzem vor | |
allem an den Slogan „Nie wieder!“. Die Menschen hingegen fürchten über | |
Grenzen hinweg einen europaweiten Krieg. | |
In der heutigen internationalen Politik ist jedoch der Wettbewerb der | |
Ängste durch einen Wettbewerb der moralischen Überlegenheit und in einigen | |
Fällen auch der Arroganz ersetzt worden. Plötzlich scheinen viele | |
europäische Länder zu glauben, dass sie Russland am besten verstehen und | |
dass sie allein die Lösung des Konflikts kennen. Polen – weil es | |
Erfahrungen mit der langen Geschichte der russischen Besatzung hat. | |
[4][Deutschland – weil viele Menschen] hier immer noch auf eine Rückkehr zu | |
„Wandel durch enge Beziehungen“ setzen. | |
## Fruchtlose Auseinandersetzungen | |
Frankreich – weil Emmanuel Macron gern im Namen von ganz Europa spricht und | |
sich mit Wladimir Putin trifft. Und das Gemeinsame zwischen ihnen? | |
Stattdessen kommt es zu fruchtlosen Auseinandersetzungen wie kürzlich | |
zwischen dem polnischen Ministerpräsidenten Morawiecki und dem | |
französischen Staatspräsidenten, die sich gegenseitig ihre vermeintlichen | |
oder tatsächlichen Fehler vorwarfen. | |
Das spaltet Europa in einer Zeit, in der wir vor allem Einigkeit brauchen | |
und an die Zukunft denken müssen: gemeinsame, weitere Hilfe für die | |
Ukraine, eine gemeinsame Energiepolitik, eine europäische | |
Verteidigungspolitik in einer Situation, in der es wieder um einen echten | |
Krieg geht. Diese Spaltung spielt Wladimir Putin in die Hände. | |
Wahrscheinlich stellt er sie zur Schau [5][am „Tag des Sieges“ am 9. Mai]. | |
Im Moment gibt es mehr Solidarität und Vernunft vonseiten der Bürgerinnen | |
und Bürger. Dafür hat sich Lena auf dem Berliner U-Bahnhof bedankt. Diese | |
leisen Signale, diese kleinen Gesten, inmitten eines albtraumhaften Krieges | |
– sie müssen auch in der internationalen Politik erklingen. | |
7 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Karolina Wigura | |
Jaroslaw Kuisz | |
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