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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Symmetrie der Interessen
> Die Gefahr einer nuklearen Eskalation ist groß. Ein Krisenmanagement ist
> vonnöten. Dazu gehören eine realistische Zielsetzung und klare
> Kommunikation.
Bild: Verlegung von US-Kampfflugzeugen nach Deutschland im Rahmen einer Nato-Mi…
In der aktuellen Konfrontation mit Russland gibt es viele Gründe zur Sorge.
Waffenlieferungen an die Ukraine könnten einen russischen Angriff auf
Nato-Gebiet auslösen; Russland könnte mit taktischen [1][Atomwaffen] eine
konventionelle militärische Niederlage ausbügeln; Russland könnte auf einen
[2][Nato-Beitritt Finnlands] und Schwedens mit Gewalt reagieren – das sind
nur einige der Möglichkeiten einer Eskalation. Besorgniserregender ist
jedoch eine Gefahr, die dieser Krise an sich innewohnt.
Der wichtigste einzelne Faktor, der über das Ergebnis einer Krise zwischen
bewaffneten Atommächten bestimmt, ist das relative Gewicht der Interessen.
Je größer die Interessen, desto größer die Risiken, die ein Protagonist ins
Auge fasst, um sie zu schützen. Und je ungleicher die Interessen, desto
einfacher dürfte es sein, die Krise zu einem gütlichen Ende zu steuern. Die
Berlinkrise von 1961 und die Kubakrise von 1962 erscheinen beide lehrreich
in dieser Hinsicht.
In Berlin 1961 nahmen die Westmächte den Bau der Mauer hin, trotz einer
enormen Anspannung mit direkter Truppenkonfrontation. Denn sie erkannten,
dass das sowjetische Interesse größer war als ihr eigenes. Aus sowjetischer
Sicht hätte ein weiteres Zulassen des Exodus von Auswanderern aus der DDR
den ostdeutschen Staat und seine Wirtschaft bis hin zum Zusammenbruch
untergraben und das hätte ein Untergraben der sowjetischen Kontrolle über
Osteuropa ausgelöst.
Eine stärkere westliche Antwort auf den Mauerbau hätte leicht eine
sowjetische militärische Reaktion provozieren können. Dem Westen war das
Interesse an Bewegungsfreiheit in Berlin einfach nicht groß genug, um
dieses Risiko einzugehen. In Kuba 1962 waren die Rollen umgekehrt verteilt.
Die Präsenz sowjetischer Raketen auf der Insel war nicht zentral für
sowjetische Interessen, aber für Washington galt sie als direkte Bedrohung
der Sicherheit der USA.
## Keiner wird nachgeben
Die darauffolgende Blockade Kubas und die Drohung, notfalls weiter zu
eskalieren, genügte, um die Sowjetunion zum Rückzug zu bewegen. Der Gefahr
der aktuellen Krise liegt darin, dass keine solche Asymmetrie der
Interessen zu erkennen ist. Putin hat sich schwer verrechnet, als er
dachte, es gäbe eine, und musste sich jetzt eines Besseren belehren lassen.
So gehen inzwischen beide Seiten davon aus, dass es um ihre fundamentalen
Interessen geht.
Beide geben sich entschlossen und bereit, kalkulierte Risiken einzugehen,
um die Gegenseite zum Einlenken zu zwingen. Das ist die schwierigste und
gefährlichste Art von Krise. Um sie zu überstehen, sind drei Dinge jetzt
dringend. Erstens müssen wir der lautstarken Debatte über eine mögliche
Eskalation der Mittel eine Klarheit über das nötige Vermeiden der
Eskalation der Ziele entgegenstellen.
Solange beide Seiten ihre Forderungen und Ziele so formulieren, dass die
Gegenseite das als direkte Bedrohung ihrer eigenen vitalen Interessen
auffasst, dürfte der Wille zur Eskalation auf beiden Seiten größer sein als
die Akzeptanz einer Niederlage. In so einer Krise ist Besonnenheit genauso
wichtig wie Entschlossenheit.
Unsere zentralen Ziele müssen sein: dass [3][Russlands Invasion der Ukraine
scheitert]; dass die Ukraine sich energisch verteidigen kann und nicht dazu
gezwungen wird, aus einer Position der Schwäche zu verhandeln; und dass als
Ergebnis die Ukraine das Recht haben wird, ihre Freunde und Verbündete
selbst zu wählen. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass die europäische
Sicherheitsordnung intakt bleibt und nicht zu einem Zustand wie vor dem
Zweiten Weltkrieg zurückkehrt, als starke Staaten den schwachen straflos
Vorschriften machen konnten.
## Auf einen beschränkten Sieg zielen
Dass die Nato das russische Militär komplett zerstört, einen
[4][Regimewechsel in Moskau] anstrebt oder dass die Ukraine der Nato
beitritt, außer wenn ihre Regierung und Bevölkerung es wünschen und
bisherige Nato-Mitglieder zustimmen – das ist und sollte kein zentrales
Ziel der westlichen Politik sein. Manche mögen die beschränkten Ziele zu
beschränkt finden, aber in einer Krise zwischen atomar bewaffneten Gegnern
ist nur ein beschränkter Sieg erreichbar, kein totaler.
Zweitens sind dringend Maßnahmen erforderlich, um die Ereignisse unter
Kontrolle zu halten. Die Spannungen sind so hoch und die Militärs von Nato
und Russland befinden sich an einigen Fronten so nahe beieinander, dass
Einsatzregeln überprüft werden sollten, um sicherzustellen, dass sie für
das Krisenmanagement taugen und keine Auslegungssache für lokale
Kommandeure sind.
Es wäre auch weise, mehr nationale militärische Mittel unter geeintes
Nato-Kommando zu stellen, um eine größere Konsistenz der Kontrolle über
militärische Aufstellungen und Operationen zu erreichen. Und da kleine
Verbündete größere in Kriege hineinziehen können, sollten [5][die USA] eine
größtmögliche Führung über ihre Verbündeten ausüben, um sicherzustellen,
dass sie alle Teil einer kohärenten Strategie sind und kein einzelnes
Mitglied Handlungen mit gefährlichen Konsequenzen für die anderen treffen
kann.
Drittens gibt es einen dringenden Bedarf an besserer Krisenkommunikation,
wie das jüngste Fiasko der US-Geheimdienstler zeigt, die ihre Rolle beim
Angriff auf russische militärische Mittel in der Ukraine öffentlich
machten. Nicht nur müssen die Ziele des Westens klar sein, sie müssen auch
klar und einheitlich kommuniziert werden, damit man sie in Moskau nicht
missversteht.
Im Moment beschreiben zu viele Leute unterschiedliche Ziele, von einer
Schwächung Russlands über das komplette Zurückdrängen russischer Kräfte aus
der Ukraine bis zu einer so totalen Niederlage Putins, dass er sie nicht
überleben kann. Krisenmanagement muss sowohl unsere vitalen Interessen
schützen als auch eine direkte militärische Konfrontation mit Russland
vermeiden. All diese Maßnahmen mögen dafür nicht ausreichen, aber sie sind
Voraussetzung.
Aus dem Englischen von Dominic Johnson
13 May 2022
## LINKS
[1] /Putins-Atomwaffen-Drohung/!5835479
[2] /Nato-Beitritte-im-Ukraine-Krieg/!5854309
[3] /Russlands-erfolgloser-Feldzug/!5843040
[4] /Der-Westen-und-Russland/!5843042
[5] /US-Praesident-in-Polen/!5841466
## AUTOREN
Ian Kearns
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Weltkrieg
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Verbot von Atomwaffen
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