| # taz.de -- Free Walking Tours in Hamburg: Sightseeing für ein Trinkgeld | |
| > Für lau all die Sehenswürdigkeiten Hamburgs sehen? „Free Walking Tours“ | |
| > sind beliebt. Guides bekommen allerdings kein Gehalt, sondern Trinkgeld. | |
| Bild: Über Hamburg gibt es einiges zu erzählen. Einen festen Lohn bekommen Gu… | |
| Hamburg taz | Etwa 40 Tourist:innen stehen um Maria Garcia* und ihren | |
| gelben Regenschirm herum. Heute ist es eine besonders große Gruppe. Im | |
| Hintergrund ragt die St.-Petri-Kirche in Hamburg in den Himmel. Die Stimme | |
| des Tourguides wird mit einem kleinen Lautsprecher verstärkt, der an ihrem | |
| Gürtel hängt. | |
| Garcia erzählt Hamburgs Vergangenheit als Geschichte vom Stehaufmännchen. | |
| Ein gallisches Dorf im hohen Norden, das sich nicht unterkriegen ließ. Ein | |
| Dorf, dass brandschatzenden Wikingern und plündernden Slawen stoisch | |
| trotzte. Die Bewohner:innen verschanzten sich in der Hammaburg, auf die | |
| der Stadtname zurückgeht und deren Umrisse heute graue Mauern auf dem | |
| Domplatz nachzeichnen. Garcia zeigt darauf. | |
| Dort, wo heute St. Petri steht, soll schon im 9. Jahrhundert eine | |
| Holzkirche gewesen sein. Von da sollen die tapferen Bewohner:innen der | |
| Hammaburg den heidnischen Norden christianisieren. Jedes Mal, wenn die | |
| Wilden aus dem Umland die Burg niederrissen, die eher einem Holzwall, denn | |
| einer Ritterburg aus dem Märchenbuch glich, bauten die | |
| Hammaburger:innen sie wieder auf. Stets treu ihrem Dienstherrn | |
| verpflichtet. Friedrich der Fromme, Sohn Karls des Großen, hatte sie | |
| entsandt. | |
| Die rund 40 Menschen, die Garcia heute durch die Altstadt führt, rücken | |
| möglichst nah an sie heran, um nichts zu verpassen. Die | |
| Mittelalterhistorikerin erzählt bildhaft und pointenreich. Sie ist | |
| Geschichtslehrerin und promoviert nebenbei. Auf die Sympathie ihrer Gäste | |
| ist die 37-Jährige dringend angewiesen. Denn: [1][Die zweistündige Tour] | |
| durch Hamburgs Altstadt kostet die Tourist:innen erst einmal nichts. Sie | |
| findet auf Trinkgeldbasis statt. Jede:r entscheidet selbst, wie viel | |
| Garcia bekommt. | |
| ## Arbeitsbedingungen sind umstritten | |
| Die sogenannten „Free Walking Tours“ sind in ganz Europa beliebt. Dabei | |
| sind die Arbeitsbedingungen der Guides umstritten. Eigentlich werden | |
| Gästeführer:innen nach Zeit bezahlt, nicht nach Gruppengröße. Free | |
| Tours drehen dieses Prinzip um: Je mehr Menschen kommen, desto besser ist | |
| das Gehalt der Guides. Soweit das Versprechen. | |
| Doch die Guides arbeiten meist als Selbstständige. Von den Trinkgeldern | |
| dürfen sie nur einen Teil behalten. Nach jeder Tour kassiert der | |
| Veranstalter eine Vermittlungsgebühr. Dazu kommen Steuern und die private | |
| Alters- und Krankenvorsorge. Je weniger Gäste die Tour besuchen, desto | |
| schmaler fällt somit auch der Lohn aus. Schietwetter oder Lockdowns tun ihr | |
| Übriges. | |
| „Das ist moderne Sklavenarbeit“, sagt Gerritje Deterding, Vorstand von | |
| [2][Hamburg Guides], einem von zwei Hamburger Berfusverbänden für | |
| Gästeführer:innen. Sie führt seit 1985 Tourist:innen durch Hamburg und | |
| beobachtet die Free Tours, seitdem das Unternehmen Sandemann Tours sie hier | |
| etabliert hat. | |
| Gern werben die Touranbieter mit entspannter Atmosphäre, in der man in | |
| fremde Städte eintauchen kann. Junge Menschen mit schmalem Geldbeutel sind | |
| die Zielgruppe. Die Gruppe in der Altstadt ist allerdings nicht sonderlich | |
| jung. Durchschnittsdeutsche in Windjacken und ein Schweizer Rentnerpärchen | |
| stehen da und starren die Kirchtürme empor. | |
| Laut einer [3][Umfrage der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen] | |
| möchten fast zwei Drittel der Deutschen gern sozial nachhaltig verreisen. | |
| In seiner jährlichen Studie untersucht der Verband die Reisegewohnheiten. | |
| Und der Wunsch nach sozial verträglichen Reisen, also fairen | |
| Arbeitsbedingungen am Reiseziel und einem respektvollen Umgang mit der | |
| Bevölkerung, ist demnach seit 2016 kontinuierlich gestiegen. | |
| ## Geiz ist geil-Mentalität im Tourismus | |
| Warum laufen die Touren dann so gut? „Weil sie nichts kosten“, sagt | |
| Gästeführerin Deterding. „Wir haben ein Klientel, das in der | |
| Geiz-ist-geil-Mentalität aufgewachsen ist.“ Deterding lebt seit 1973 in | |
| Hamburg, ein leichter niederländischer Akzent ist noch zu hören. Sie | |
| beklagt, dass die niedrigen Preise ihr die Kundschaft abgraben. „Es muss | |
| miteinander gehen, nicht gegeneinander“, sagt sie. Und außerdem seien die | |
| Free-Walking-Touren qualitativ enorm unterschiedlich. Das läge auch daran, | |
| dass die Guides nicht einheitlich geschult würden. Und das wiederum läge an | |
| der europäischen Gesetzeslage. | |
| In der Schweiz, in Österreich und in Italien etwa gibt es eine Ausbildung | |
| mit staatlicher Prüfung für Gästeführer:innen. In Deutschland bilden | |
| Berufsverbände zwar Azubis zu Guides aus und verteilen Zertifikate, aber | |
| die Berufsbezeichnung ist nicht geschützt. Jeder darf sich so nennen. | |
| In Wien protestierten die lizensierten Guides auch schon gegen die Free | |
| Walking Tours. Wer dort ohne Lizenz Gruppen führt, musste mit mehreren | |
| Hundert Euro Ordnungsgeld rechnen. Deterding findet, Hamburg könnte sich da | |
| etwas abschauen: „In Deutschland sind Free Tours provozierte | |
| Schwarzarbeit“, sagt sie. Ob die Guides der Free Tours Steuern zahlten, sei | |
| nicht überprüfbar. Doch Gesuche um politische Reglementierung von ihrem | |
| Verband seien bisher gescheitert. Deterding fordert, dass alle Guides per | |
| Gewerbeschein registriert werden. So ließe sich Transparenz herstellen. | |
| Die Handelskammer in Hamburg wäre für solche Gewerbescheine zuständig. Von | |
| dort heißt es auf Anfrage, dass sich grundsätzlich auch Selbstständige – | |
| also die Guides der Free Tours – anmelden könnten. Freischaffende | |
| Künstler:innen täten das oft. Eine staatliche Lizenz mit einer Prüfung | |
| für Gästeführer:innen wie in Wien sei jedoch nicht geplant, sagte ein | |
| Sprecher der Hamburger Wirtschaftsbehörde. | |
| Weil die freien Guides nicht verpflichtend registriert werden, ist unklar, | |
| wie viele überhaupt in Hamburg arbeiten. Bei den beiden | |
| Gästeführerverbänden sind rund 200 zertifizierte Gästeführer:innen | |
| gemeldet. Und die Verbände schätzen, dass ungefähr genauso viele Guides | |
| freiberuflich arbeiten. | |
| Brent Foster ist Gründer und Co-Chef von „[4][Robin and the Tourguides]“. | |
| Die Firma mit den gelben Schirmen ist in Hamburg mit zahlreichen Guides | |
| vertreten. Nachdem Foster sich in der Musikbranche von Kündigung zu | |
| Kündigung gehangelt hatte, stieg er aus – und fing als Free Guide bei einem | |
| großen Reiseanbieter an. | |
| Das miese Gehalt und die fehlende Mitsprache frustrierten ihn. Wie in der | |
| Branche üblich, hätten Chefs dicke Provisionen für Touren kassiert, zu | |
| denen kaum Leute erschienen seien. Die Routen und Gehälter wurden diktiert. | |
| „Das wollten wir besser machen“, sagt er. Aus den schlechten Erfahrungen | |
| entstand die eigene Firma. | |
| Foster versteht das Geschäftsmodell der Free Tours so: Ein Guide beauftragt | |
| seine Firma, Kunden zu generieren. Dafür muss er Provision zahlen. Wie viel | |
| genau, will Foster nicht sagen. Es sei etwas weniger als zwei Euro pro | |
| Gast. Auch bei ihm sind die Guides nicht angestellt. Garcia arbeitet für | |
| ihn und lobt die Arbeitsbedingungen. Sie sagt, mehr als 20 bis 25 Prozent | |
| der Einnahmen betrage die Provision nicht. | |
| ## Das Risiko tragen die Guides | |
| „Wenn die Leute nur Münzen als Trinkgeld geben, verlangen wir auch keine | |
| Provision“, sagt Foster. Das läuft dann auf Vertrauensbasis. So will der | |
| gebürtige Kalifornier verhindern, dass die Guides Verluste machen. Den | |
| Vorwurf anderer Fremdenfüher:innen, Free Tours würden die Preise ruinieren, | |
| hört er oft. „Wir bieten auch feste Touren an und da machen wir keine | |
| Dumpingpreise“, sagt er. Mit den Free Tours will er die Hemmschwelle | |
| nehmen, schon vor einer Führung 25 bis 30 Euro zu zahlen, ohne zu wissen, | |
| was kommt. Dennoch räumt Foster ein: „Das Risiko für die Touren tragen die | |
| Guides als Selbstständige, aber wir versuchen es abzumildern.“ | |
| Garcia erklärt das Finanzierungsmodell der Free Walking Tours gleich zu | |
| Beginn am Treffpunkt auf dem Rathausplatz. Sie bittet um Trinkgeld – und | |
| gute Bewertungen. | |
| „Es heißt Free Tour, nicht weil sie kostenlos ist, sondern weil jeder frei | |
| entscheiden kann, was er zahlen möchte“, sagt sie und wechselt dann zu den | |
| ersten Fakten über Hamburg: Als sie bei Airbus angelangt ist und dessen | |
| Rolle als Arbeitgeber in der Stadt, rauscht ein Transportflieger vom Typ | |
| „Beluga“ im Tiefflug über die Häuser. Beeindruckt verrenken sich die | |
| Tourist:innen die Hälse. Garcia sagt mit einem Lächeln: „Dafür habe ich | |
| heute fünf Euro gezahlt.“ | |
| *Name geändert | |
| 26 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Stadtfuehrung-in-Berlin/!5572905 | |
| [2] https://hamburgguides.de/ | |
| [3] https://reiseanalyse.de/ | |
| [4] https://www.robinandthetourguides.de/de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Leopold Pelizaeus | |
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