# taz.de -- Die Wahrheit: Quietschbunte Plastizianer | |
> Besuch in der Plastikwelt: Wo Menschen als Versuchskaninchen in der | |
> Künstlichkeit vollends aufgehen und ewig leben. | |
Bild: Plastizianer leben in ihrer ganz eigenen künstlichen Welt | |
Bevor wir ihn sehen können, hören wir Professor Gehrenstedt hinter der | |
Kunststoff-Umzäunung der streng abgeriegelten Versuchsanstalt. Sein aus | |
recycelten PET-Flaschen und dem Abrieb alter Autoreifen hergestellter | |
Alltagsdress quietscht bei jedem seiner Schritte, bis er vor dem | |
Haupteingang zum Stehen kommt. Das Schloss wird von innen entriegelt, und | |
eine Tür öffnet sich. Vor uns steht ein glattrasierter Mittvierziger mit | |
glänzendem, von fluoreszierenden neongrünen Strähnen durchsetztem | |
Haupthaar, dessen ungewöhnliche Tönung man wohl am ehesten als | |
Gelber-Sack-Blond beschreiben könnte. | |
Auf seiner aalglatten und makellos leuchtenden Gesichtshaut können wir | |
neben unseren verdutzten Spiegelbildern auch das idyllische Landschaftskino | |
der Holsteinischen Schweiz hinter uns detailgetreu erkennen. Gereon | |
Gehrenstedt starrt gierig auf unsere einlaminierten Besucher-Tagespässe, | |
die er uns aus den Händen reißt und unter verzückten Wonnelauten genüsslich | |
von oben bis unten ableckt. | |
„Die sind in Ordnung“, keucht er nach einer gefühlten Ewigkeit, gibt uns | |
noch immer schmatzend die speichelfeuchten Ausweise zurück und bedeutet uns | |
mit ausgestrecktem Arm, die Schwelle zum „Plöner Plastikpark“ zu | |
überschreiten. | |
An den Gestaden des gleichnamigen Sees ist vor einigen Jahren ein | |
Forschungskomplex entstanden, in dem sich Hunderte Wissenschaftler mit | |
ihren Familien niedergelassen haben, um die bisher sträflich | |
vernachlässigten positiven Auswirkungen des viel gescholtenen Mikroplastiks | |
auf den menschlichen Körper in einem einmaligen Selbstversuch zu erforschen | |
und für die Nachwelt lückenlos zu dokumentieren. Nun sollen die | |
Zwischenergebnisse der Langzeitstudie nach und nach der Fachpresse | |
vorgestellt werden. | |
## Gebäude aus Hartplastik | |
Gehrenstedt lotst uns zwischen geschäftig umherlaufenden und in | |
quietschbunte Discounter-Tüten gehüllten Menschen an mehrstöckigen Gebäuden | |
aus Hartplastik vorbei, die auf uns wie überdimensionierte Spielhäuser | |
wirken. Palmen zum Aufblasen und eine künstliche Blumenwiese lockern die | |
Szenerie auf. Auf einem Teich schwimmen Gummienten. | |
„Für den Bau unserer Wohnstätten wurden ausschließlich unnatürliche und | |
nicht abbaubare Stoffe wie Polypropylen, Polymerisat und Polyvinylchlorid | |
verwendet“, erklärt uns der erfahrene Chemiker und Mineralogie der | |
Technischen Universität Braunschweig, während wir über den weitläufigen | |
Wiesengrund schlendern, der selbstverständlich aus Kunstrasen besteht. | |
Professor Gehrenstedt weist uns auf den benachbarten Grillplatz hin, wo ein | |
riesiger Plastiktopf über offenem Feuer vor sich hin qualmt und den Geruch | |
von angesengtem Kunststoff über der Zeltstadt verteilt. | |
„Gekocht wird hier täglich frisch mit ausgewählten Zutaten vom Hamburger | |
Großmarkt, von denen wir wissen, dass sie mit einem Höchstmaß an wertvollem | |
Mikroplastik angereichert sind“, erläutert der Versuchsleiter. „Frisches | |
Muschel- oder Krebsfleisch aus China kommt hier fast täglich auf den Tisch, | |
damit wir unseren Bedarf auf natürliche Weise decken können und gar nicht | |
erst anfangen müssen, umständlich überteuerte Plastik-Ergänzungsprodukte zu | |
uns zu nehmen. Bei eingeschweißtem Gemüse essen wir die leckere Verpackung | |
übrigens gleich mit.“ | |
Wir gehen an einer Hüpfburg entlang, auf der ein gutes Dutzend | |
Halbwüchsiger vergnügt auf und ab springt. Davor kniet katzbuckelnd ein | |
etwa zehnjähriges Mädchen und würgt, von den anderen Kindern unbeachtet, in | |
reflexartigen Wellenbewegungen etwas hervor. Nach mehreren erfolglosen | |
Versuchen ploppt schließlich ein bordeauxfarbener Gummiball aus dem Mund | |
der Kleinen und verabschiedet sich nach zweimaligem Aufsetzen ins nächste | |
artifizielle Gebüsch. | |
Während sich das Kind wieder seinen Spielkameraden anschließt, als wäre | |
nichts gewesen, klärt die Synthetik-Koryphäe uns über den Vorfall auf. | |
„Weil der Körper nicht alle wertvollen Nährstoffe unserer reichhaltigen | |
Plastiknahrung auf einmal verarbeiten kann, entledigt er sich auf die Art | |
unverdaulicher Kunststoffreste und beugt so einer Überdosierung vor.“ Als | |
wir Professor Gehrenstedt danach fragen, wie jene Anteile, die im | |
Organismus verbleiben, sich dort in gesundheitsfördernder Weise bemerkbar | |
machen, gerät der Wissenschaftler ins Schwärmen. | |
## Gallertartige Muskeln und Knochen | |
„Zunächst einmal sorgen die vielen Weichmacher, die wir unserem Trinkwasser | |
zusetzen, dafür, dass Knochen und Muskelmasse sukzessive eine gallertartige | |
Substanz annehmen. Frakturen oder Prellungen sind damit so gut wie | |
ausgeschlossen.“ Er deutet zum Sprungturm des parkeigenen Seeschwimmbads, | |
wo ein vor Athletik strotzender Jüngling nach beherztem „Köpper“ mit Salto | |
und dreifacher Schraube nur wenige Zentimeter ins Wasser eintaucht, um dann | |
wie ein Flummi mit Wucht wieder nach oben katapultiert zu werden, wo er | |
schließlich steif auf dem Rücken liegend Richtung Seemitte treibt. „Tod | |
durch Ertrinken übrigens ebenfalls“, ergänzt Gehrenstedt augenzwinkernd. | |
Außerdem, so der Visionär, sehe man durch die Gewöhnung des menschlichen | |
Körpers an plastikhaltige Nahrung einen immensen evolutionären Vorteil. | |
Sollte es aufgrund von internationalen Krisen jemals zu einer globalen | |
Lebensmittelknappheit kommen, könnten die Einwohner des Camps noch etliche | |
Jahre gut vom Plastikmüll in den Meeren leben und so in postapokalyptischen | |
Zeiten gar den Grundstock für eine neue Zivilisation bilden. | |
Nicht zuletzt habe die Beschäftigung mit Kunststoff den Bezug vieler | |
„Plastizianer“ zum Thema Vergänglichkeit von Grund auf verändert. „Durch | |
den extrem hohen Plastikanteil in Skelett, Muskeln und Fett sind wir | |
mittlerweile zu einhundert Prozent recycelbar und glauben, dass wir nach | |
unserem Ableben als Scheibenwischerüberzug, Strandball oder | |
Urin-Probenbecher wiedergeboren werden. Wer will da schon von ‚Tod‘ | |
sprechen?“ | |
Professor Gehrenstedt möchte uns noch mehr erzählen, wird aber vom | |
schrillen Läuten der mechanischen Essensglocke unterbrochen. Er lädt uns | |
zum Mitessen ein. Es gibt Polyethylen-Geschnetzeltes mit Folienkartoffeln, | |
heute aber ohne die Erdknollen. Wir lehnen dankend ab. | |
25 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Patric Hemgesberg | |
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