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# taz.de -- Die Wahrheit: Alaaf, die Therapeuten kommen!
> Schluss mit Stippeföttche: An siechem Brauchtum erkrankter Kölner wird in
> Heilanstalt zum seriösen Karnevalsmuffel therapiert.
Wir befinden uns derzeit trotz Pandemie in der heißen Phase des Karnevals,
zumindest in den rheinischen Provinzen. Während in den „Brauchtumszonen“
westdeutscher Narrenhochburgen unter Einhaltung der 2G-plus-Regeln gerade
mit größtmöglicher Vorsicht getanzt und gesungen, geknutscht und
geschunkelt wird, liegt im weitläufigen Park der brandenburgischen
„Gravitas-Klinik für angewandte Ernsthaftigkeit“ erwartungsgemäß der Hund
begraben.
Wind rauscht in den Wipfeln blattloser Pappeln, aus der Ferne ist das
Krächzen einer einsamen Saatkrähe zu hören und über schier endlosen
Stoppelfeldern wölbt sich bleischwer der graue Spätwinterhimmel, hier am
Rande von Königs Wusterhausen. Für „Jupp“ (Name von der Redaktion geände…
das ideale Setting, um seine Jahrzehnte andauernde Feiersucht dauerhaft in
den Griff zu bekommen. Der ehemals karnevalsverrückte Ur-Kölner hat im
Verein „Funke Rut-Wiess“ vom Bambini-Früchtchen bis zum stattlichen
Tanzoffizier naturgemäß alle Stationen durchlaufen, bevor ihn beim
Hochwuchten seines Mariechens auf der Bühne des legendären domstädtischen
Gürzenich ein folgenschwerer Leistenbruch ereilte.
Wie Jupp heute weiß, ein Glücksfall. „Vorher hatte ich kein
Altstadt-Kneipenbesäufnis und keinen noch so kleinen Vorstadtumzug
ausjelassen“, fabuliert der zuvor als „Strunzbüggel“ und „Fötchensfö…
weit über die Grenzen der karnevalesken Metropole hinaus bekannte
Speditionskaufmann im rheinischen Singsang. In seiner ärztlich verordneten
Zwangspause mitten in der fünften Jahreszeit habe er dann angefangen,
altbekannte Muster in Frage zu stellen.
„Beim Sitzungskarneval jedes Mal, wenn ein Tusch ertönt, wiehernd zu
applaudieren und mit den Füßen zu stampfen, hatte schon was von einem
Pawlow’schen Hund“, gibt der Aussteiger selbstkritisch zu. Auch den
scheinbar unwiderstehlichen Drang, wildfremde Menschen zu „bützen“ sowie
das „Stippeföttche“ genannte, hygienisch zumindest fragwürdige
Aneinanderreiben von Gesäßteilen auf Zuruf, erschien dem 54-Jährigen
zusehends befremdlich.
## Flucht vor Session
„Als ich dann am Aschermittwoch 2020 bei der Nubbelverbrennung zum ersten
Mal, vom Mitleid überwältigt, um die unschuldige Strohpuppe weinen musste,
wusste ich: Es ist an der Zeit, dem Fastelovend Tschö mit ö zu sagen“,
verkündet Jupp gefasst und erzählt uns von seiner denkwürdigen Flucht in
den Wirren des darauffolgenden Sessions-Auftakts.
Ausgerechnet am 11. 11. war er, unbemerkt von seiner sich auf dem „Alter
Markt“ verlustierenden Gattin, den beiden übel angeschickerten
Teenie-Töchtern im Hausflur und weit unter dem Radar des Festkomitees
Kölner Karneval, im Tanzkostüm bis zum Hauptbahnhof gelangt und hatte es,
ohne Verdacht zu erregen, in den ICE-Sprinter Richtung Osten geschafft.
Sich auf der Bordtoilette den „widerlichen Funkenfummel“ vom Leib zu reißen
und die, von einem Freund in einer Plastiktüte deponierte, mausgraue
Alltagskleidung überzustreifen, sei wie eine Befreiung gewesen, atmet die
Ex-Frohnatur noch heute auf. Der Rest ist Geschichte, deren Rad sich nicht
mehr zurückdrehen lasse, so Jupp.
„Hier in der Gravitas-Klinik werde ich jetzt von den besten
Anti-Fastnachts-Spezialisten Deutschlands behandelt“, posaunt Jupp, der
nach monatelangen Therapiesitzungen endlich keine „Alaaf“-Stimmen mehr hört
und sich ohne Pfleger frei auf dem Gelände bewegen darf. Dass dies nur eine
kleine Etappe auf dem Weg zum vollwertigen Karnevalsmuffel sein kann, ist
dem Exil-Rheinländer aber durchaus bewusst. Denn sollten die
Coronabeschränkungen fallen und enthemmtes Feiern ab der nächsten Session
wieder überall möglich sein, ist das Rückfallrisiko in der Domstadt
immens.
## Knallhartes Training
Für diesen Tag X trainiert der „kölsche Jung“ täglich knallhart auf dem
klinikeigenen Desensibilisierungs-Parcours: Zu dröhnend lauter
Karnevalsmusik und unter heftigem Kamelle-Konfetti-Beschuss muss sich Jupp,
mit nichts als einem Gummihämmerchen bewaffnet, durch einen Miniaturnachbau
des Rosenmontagszugweges bewegen, während sein Therapeut am Rand die Zeit
stoppt und sich auf dem Klemmbrett Notizen macht. Im Untergrund versteckte
und durch Trittauslösung ruckartig hochschnellende Pappschilder mit den
Konterfeis vollkostümierter Alltagsjecken soll er möglichst weiträumig
umlaufen. Karnevalistische Schwergewichte wie das Kölner Dreigestirn,
Mitglieder des Elferrats sowie Bühnengrößen à la Brings oder Die Höhner
müssen dann mit einem erbarmungslosen Stakkato aus hell aufquietschenden
Gummihammer-Schlägen direkt wieder ins närrische Nirwana befördert werden.
Trotz hervorragender Ansätze und Bestzeitambitionen ist der Ehrgeizling im
Parcours bisher noch jedes Mal am „Endgegner“ auf der Domplatte gescheitert
– dem aufgepumpt wabernden, sieben Meter hohen Duplikat eines psychedelisch
grinsenden Willy Millowitsch mit Pappnase, vor dem sich Jupp huldigend in
den Staub wirft. Auch wenn er Rückschläge wie diesen hinnehmen muss, ist
der Muffel-Azubi dennoch überzeugt, es auf kurz oder lang zu schaffen und
vom „Joch des Karnevals“ befreit in seine Heimat zurückzukehren.
„Ich möchte auch anderen Kölnern helfen, die Zeit zwischen Aschermittwoch
und dem 10. 11. nicht nur als Wurmfortsatz des Kalenderjahrs zu betrachten,
sondern im Hier und Jetzt zu leben“, ist sein selbsterklärtes Ziel. Doch
bevor es so weit ist, muss er zu einer unter den Insassen der Heilanstalt
extrem gefürchteten Feuerprobe erst mal zurück ins Gebäude und einem seiner
härtesten Therapeuten entgegentreten: Der Krankenhausclown kommt zu Besuch!
Dr. Eckart von Hirschhausen will in der laufenden Therapiewoche „abgehen
wie Luzy“ bei seinem, wie es der fernsehbekannte Flacharzt nennt:
„Aschermittwoch’s-Kabarett“. Jupp ist wahrlich nicht zu beneiden.
19 Feb 2022
## AUTOREN
Patric Hemgesberg
## TAGS
Karneval
Humor
Köln
Ernährung
St. Patrick's Day
Schwerpunkt Klimawandel
Die Wahrheit
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