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# taz.de -- Vermittler im Ukrainekrieg: Erdoğans Balanceakt
> Der türkische Präsident bemüht sich um einen Ausweg aus dem Krieg. Doch
> mit Russlands Machthaber Putin brechen will Erdoğan nicht.
Bild: Frankreichs Präsident Macron und sein türkischer Amtskollege Erdoğan b…
Istanbul taz | Am Dienstag werden nach zweiwöchiger Unterbrechung, in denen
Russen und Ukrainer nur über eine Videoschalte gesprochen haben, wieder
persönliche Verhandlungen zwischen Delegationen der beiden Länder
stattfinden. Ort dieser Verhandlungen für ein Ende der Kampfhandlungen ist
die türkische Metropole Istanbul. Wie Kremlsprecher Dimitri Peskow
bestätigte, werden die Delegationen beider Seiten im Laufe des Montags in
Istanbul eintreffen.
Vorausgegangen war am Sonntagabend ein längeres Telefonat zwischen dem
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem russischen Kollegen
Wladimir Putin. Noch auf dem Rückweg vom [1][Nato-Sondergipfel am
Donnerstag in Brüssel] hatte Erdoğan eine neue Verhandlungsinitiative
angekündigt. Am Freitagabend hatte er deswegen bereits mit dem ukrainischen
Präsidenten Wolodomir Selenski gesprochen.
Gegenüber der türkischen Presse sagte er anschließend, es gäbe in den
Gesprächen zwischen den Delegationen aus der Ukraine und Russland
Fortschritte in Fragen einer ukrainischen Neutralität, für deren zukünftige
Sicherheit die Türkei als eine Garantiemacht neben anderen bereitstünde.
Auch in der Frage des Schutzes der russischen Sprache und der von Russland
geforderten Demilitarisierung gebe es Fortschritte. Keine Annäherung gibt
es dagegen bei Russlands Forderung nach Abtretung der Krim und weiterer
Gebiete in der Ostukraine. Auch Kremlsprecher Peskow warnte vor zu hohen
Erwartungen.
Am Rande des Nato-Gipfels hatten Erdoğan, Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron und der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis auch verabredet,
gemeinsam zu versuchen, die verbliebenen Zivilisten aus dem fast völlig
zerstörten Mariupol herauszuholen. Deshalb will auch Macron in den nächsten
Tagen mit Putin telefonieren.
## Ankara geht undenkbare Schritte
Bereits einmal gelang es den türkischen Diplomaten vor zwei Wochen, den
russischen und den ukrainischen Außenminister am Rande einer Konferenz in
Antalya an einen Tisch zu bekommen. Auch wenn das Treffen ohne Ergebnis
blieb, will Erdoğan nicht aufgeben. Dazu ist die Türkei bereit, noch vor
Kurzem undenkbare Schritte zu machen. Die Ankündigung, gemeinsam mit
Griechenland und Frankreich – den beiden Erzfeinden im Streit um
Schürfrechte im Mittelmeer – [2][Zivilisten aus Mariupol] retten zu wollen,
kommt einer kleinen Sensation gleich.
Der Krieg gegen die Ukraine hat in der türkischen Außenpolitik vieles
verändert. Befriedigt stellte Erdoğan nach dem Nato-Sondergipfel am letzten
Donnerstag fest, dass vielen Nato-Partnern die Bedeutung der Türkei für das
Bündnis wieder klar geworden sei. Aber auch die Türkei will nach Jahren der
Irritationen wieder unzweideutig dazugehören. „Die Nato“, stellte Erdoğan
klar, „ist der entscheidende Garant für die Sicherheit in Europa. Wir
werden an unserer Bündnistreue keinen Zweifel aufkommen lassen.“
Die hatte es lange gegeben, vor allem nachdem Erdoğan 2017 in Moskau das
modernste russische Raketenabwehrsystem S-400 eingekauft hatte und die USA
die Türkei daraufhin aus dem Programm zum Bau und Kauf der modernsten
Kampfflugzeuge F-35 hinausgeworfen hatte. Zeitweilig redete Erdoğan weit
häufiger mit Putin als mit seinen Nato-Kollegen und vor allem mit dem
französischen Präsidenten Macron focht er einen verbissenen Disput aus.
Das ist jetzt scheinbar alles vergessen. Erdoğan ist einer der wenigen
Vertreter eines Nato-Staates, der noch einen direkten Draht nach Moskau
hat. Deshalb wird ihm in Brüssel derzeit auch nicht verübelt, dass die
Türkei sich an den Sanktionen der EU und anderer Nato-Staaten nicht
beteiligt und auch einen ganz anderen Ton gegenüber Putin anschlägt.
Während US-Präsident Joe Biden vom Kriegsverbrecher spricht, der
verschwinden müsse, drängt Erdoğan den russischen Präsidenten dazu, „jetzt
einen ehrenhaften Rückzug“ aus der Ukraine zu vollziehen.
## Türkei abhängig von Russland
Der türkische Präsident will jedenfalls einen kompletten Bruch mit Russland
vermeiden. Den jüngst lancierten Vorschlag, die Türkei solle doch ihre
russischen S-400-Systeme an die Ukraine weiterreichen und stattdessen
wieder zu den amerikanischen Rüstungskonzernen zurückkehren, wies Ankara
brüsk zurück. Erdoğan selbst sagte dazu, dass sei ein plumper Versuch
einiger Kreise in den USA, erneut einen Keil zwischen Amerika und die
Türkei zu treiben. Auch bei dem kürzlich erfolgten Besuch von Kanzler
Scholz in Ankara hatte Erdoğan nicht versprechen wollen, künftig keine
russischen Waffen mehr zu kaufen.
Russland liefert rund 50 Prozent des Öl- und Gasbedarfs der Türkei. Darüber
hinaus baut ein russischer Staatskonzern derzeit das erste AKW der Türkei.
Zudem ist für die türkische Landwirtschaft Russland der wichtigste
Absatzmarkt. Fällt der aus, verfaulen die Tomaten, die in den
Gewächshäusern um Antalya das ganze Jahr über geerntet werden.
Antalya und die weitläufigen Strände an der türkischen Riviera sind auch
der beliebteste Ferienort für Russen außerhalb ihres eigenen Landes.
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hat deshalb sogar am Wochenende den in der
EU mit Sanktionen belegten russischen Oligarchen versichert, dass sie in
der Türkei nichts zu befürchten hätten. Nach und nach trudeln deshalb die
Superyachten der Oligarchen, die bislang in Spanien oder Südfrankreich
lagen, in türkischen Häfen an der Ägäis ein.
Auch in Nordsyrien braucht Erdoğan die Kooperation mit Moskau. Denn sollte
Putin dem syrischen Diktator Baschar al-Assad grünes Licht geben, im
Schatten des Ukrainekrieges einen neuen Angriff auf die letzte
Rebellenprovinz Idlib zu starten, droht der Türkei eine neue
Flüchtlingswelle aus Syrien.
## Seemine taucht am Bosporos auf
Auch jenseits der aktuellen Konflikte wollen Erdoğan und die überwiegende
Mehrheit der türkischen Bevölkerung keinen Konflikt mit Russland. Über
mehrere Jahrhunderte waren das aufstrebende Zarenreich und das Osmanische
Reich die beiden größten Konkurrenten rund ums Schwarze Meer. Seit dem 18.
Jahrhundert gab es etliche Kriege mit Russland, die für die Osmanen zumeist
schmerzlich endeten. Die Erinnerung daran ist tief im kollektiven
Gedächtnis verankert.
Anders als gegenüber Deutschland macht der ukrainische Präsident Selenski
seinem türkischen Kollegen wegen dessen Haltung zu Russland aber keine
öffentlichen Vorwürfe. Denn trotz der Kooperation mit Moskau hat Erdoğan
die territoriale Integrität der Ukraine immer unterstützt, die Besetzung
der Krim scharf verurteilt und vor allem bereits vor Jahren begonnen, auch
Waffen an die Ukraine zu verkaufen. Heute haben die türkischen Kampfdrohnen
Bayraktar TB2 geradezu einen Kultstatus in den sozialen Medien der Ukraine.
Seit diesem Wochenende ist die Türkei darüber hinaus auch das erste
Nato-Land, das militärisch direkt vom Krieg betroffen ist. Eine
wahrscheinlich ukrainische Seemine, die vor der Küste von Odessa
ausgebracht worden war, ist am Samstag im Bosporus gesichtet worden. Die
wichtige Wasserstraße zwischen Schwarzem und Mittelmeer musste zeitweilig
gesperrt werden, ehe türkische Marinetaucher die Mine unschädlich machten.
Am Montag wurde die nächste abgetriebene Mine gesichtet. Etliche weitere
sollen die türkische Küste bedrohen.
28 Mar 2022
## LINKS
[1] /Nato-Sondergipfel-in-Bruessel/!5843970
[2] /Belagerte-Stadt-in-der-Ukraine/!5842898
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
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