# taz.de -- Die Wahrheit: Inventing Christian | |
> Ein Hochstapler aus kleinen Verhältnissen schwindelt sich zum | |
> Finanzminister empor, indem er sich als reicher Erbe ausgibt. | |
Ob Turboaufrüstung oder „Tankrabatt“: Christian Lindner haut als | |
Finanzminister im Augenblick die Milliarden raus, als gäbe es kein Morgen. | |
Prinzipiell wäre dagegen auch gar nichts einzuwenden – käme der Geldsegen | |
nicht hauptsächlich seinen Kumpelinos aus den Besserverdiener-, Kraftstoff- | |
und Rüstungscliquen zugute und hätte sich der Mann in der Vergangenheit | |
nicht stets als erzliberaler Staatsfeind und strikter Marktfreund | |
inszeniert. Auflösen lässt sich dieser vermeintliche Widerspruch jedoch, | |
wenn man schaut, wie dieser Hochstapler sich seinen Weg nach oben gebahnt | |
hat – stets mit geliehenen Grundsätzen und fremder Leute Geld! | |
Geboren wurde Christian Wurst, der später als Christian Lindner ein | |
Luxusleben in der Düsseldorfer und Berliner Elite führen wird, in Schwerte | |
im Ruhrgebiet als Sohn eines Altkleidersammlers und einer Baggerfahrerin. | |
Schon zu Grundschulzeiten behauptete er aus purer Lust am Lügen, er wäre | |
Lehrersohn aus Wuppertal und könne Pädagogen jederzeit Freikarten für die | |
Schwebebahn besorgen. Das nahm zwar niemand in Anspruch, brachte ihm aber | |
prompt eine Gymnasialempfehlung ein. | |
In der Unterstufe spekulierte Christian mit Optionsscheinen auf | |
Pausenbrote, borgte sich Hausaufgaben der Mitschüler und vergaß regelmäßig, | |
sie zurückzugeben. Ehemalige Klassenkameraden beschreiben ihn als | |
unauffälligen Angebertypen, der für einen guten Spruch jederzeit seine | |
Großmutter verkauft hätte und dies für Geld (500 Mark) auch tat. | |
Mit Einbruch der Pubertät, so erinnern sich viele, sei seine Begeisterung | |
für Markenklamotten ausgebrochen („Diesel-Jeans“). Nach leidlich | |
bestandenem Abitur und Zivildienst begann er systematisch, politisches | |
Wissen und interessante Meinungen vorzuschwindeln und ergaunerte sich auf | |
diese Weise einen Studienplatz in Politikwissenschaft. | |
Mit 16 aber war er bereits in die FDP eingetreten, wo er genügend Eindruck | |
machte, um schleunigst die Karriereleiter emporzuklettern. Frühere | |
Weggefährten berichten bewundernd, er habe jederzeit die richtigen Dress- | |
und Sprachcodes draufgehabt und schon sehr prononciert | |
„Eigenverantwortung“, „Porsche“ und „Geh sterben!“ sagen können. Z… | |
er die richtigen Anzüge, schwitzte in die richtigen Kaschmirpullis und lief | |
meilenweit in den richtigen Schuhen andere Leute. Der Clou indes, der ihm | |
in diesen Kreisen alle Türen öffnete und Taschen füllte: Er gab vor, er sei | |
der politische Milliardenerbe von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher. | |
## Als Chef der Jugendorganisation zahlt er bei sämtlichen Gelagen | |
Angesichts dieses Selbstbewusstseins erübrigten sich wohl sämtliche | |
Nachfragen, zumal Christian als Chef der Jungen Liberalen sämtliche Deckel | |
bei sämtlichen Gelagen zahlte. Doch fand er eben auch immer wieder Zeit für | |
seine Hobbys: Er lieh sich Unsummen von Geld, jonglierte mit Kreditkarten | |
und zahlte seine Schulden mit der Aufnahme von neuen Schulden. Vor allem | |
aber hatte er es raus, so zu klingen wie ein Mann von uraltem liberalen | |
Geldadel, indem er mitten in der Konversation unvermutet Lobeshymnen auf | |
„Fleiß“ und „Leistung“, „Mut“ und „Rendite“ anstimmte, wie auc… | |
Zauberworten „Unverzüglich“ und „Sie sind gefeuert!“ um sich warf. | |
Durch solche Aufschneidereien und weitere geschickte Lügen über seine | |
Herkunft gelang es ihm, eine Reihe von Krediten in Höhe von je mehreren | |
Zehntausend Euro zu ergattern, mit denen er seinen täglich aufwendigeren | |
Lebensstil finanzierte. Irgendwann musste es für jeden seiner | |
Geburtstagsgäste ein Porsche zum Mitnehmen sein. Im Jahr 2000 gelang es ihm | |
darum, in den nordrhein-westfälischen Landtag einzuziehen, was ihm bei den | |
Banken weitere Kredite in beinahe unbegrenzter Höhe einbrachte. Die er | |
allerdings gleich wieder in selbstgegründeten Start-ups der New Economy | |
versenkte. | |
## Auf Kreditkarte seiner Frau kauft er sich einen Sitz im Bundestag | |
Doch die vielen Pleiten waren ihm egal. Mit seinem frechen Auftreten als | |
angeblicher Milliardärserbe ergatterte er kostenlose Flüge mit den | |
Privatflugzeugen seiner Geschäftspartner, wohnte monatelang in Luxushotels | |
und heiratete schließlich die Chefredakteurin einer erzkonservativen | |
Tageszeitung. Mit ihrer Kreditkarte gelang es ihm schließlich, sich einen | |
Sitz im Bundestag zu kaufen, den er wiederum bald mit Pfründen aus seinem | |
neuen Posten als FDP-Generalsekretär belieh. | |
Turbulente Jahre folgten. Die Partei flog aus dem Bundestag. Christian | |
erwarb den Parteivorsitz mit einem Ratenkredit und entwickelte einen | |
unbändigen Hass auf den Sozialstaat. Damit die Partei 2017 in den Bundestag | |
zurückkehren konnte, begann er, heimlich und in großem Stil Dokumente zu | |
fälschen: Unterschriftenlisten, Bürgschaften, Einkommensnachweise und, wo | |
er schon mal dabei war, sogar die eigenen Redemanuskripte. Die Saat ging | |
auf, die Partei kehrte in den Bundestag zurück, doch bei den anschließenden | |
Koalitionsverhandlungen verzockte er sich und stand blamiert und mit leeren | |
Händen da. | |
Eine Legislaturperiode später hätte sein Kartenhaus aus ungedeckten | |
Schecks, wackeligen Kreditzusagen und gespieltem Selbstbewusstsein längst | |
zusammenfallen müssen, doch nach der Bundestagswahl 2021 findet er mit dem | |
Sozialdemokraten Olaf Scholz und dem Grünen-Duo Habeck/Baerbock | |
Geschäftspartner, die einfältig und vertrauensselig genug sind, damit er | |
sein auf kaskadierenden Stelzen von Nichts aufgebautes Pyramidensystem | |
fortführen kann. | |
„Die Art, wie er ging, redete, uns wie Bedienstete behandelte“, staunt ein | |
sozialdemokratisches Regierungsmitglied, „ließen keinen Zweifel daran, dass | |
er aus dem richtigen Stall kam und exakt wusste, was er wollte.“ Sein | |
Beharren auf dem Posten des Bundesfinanzministers wird belohnt: Man | |
überträgt ihm die Verfügungsgewalt über knapp 500 Milliarden Euro im Jahr. | |
Dass jetzt alle Welt naseweis und neunmalklug darauf hinweist, wie | |
widersprüchlich es sei, dass dieser ehemalige Staatsfeind Nummer eins seine | |
Klientel mit Staatsgeldern bei der Stange hält, findet Christian selbst | |
einfach albern: Es gehe im Leben nicht um Logik, Werte oder | |
Prinzipientreue, sondern allein darum, wer wessen Freund ist und wer wem | |
was zuschanzt. Man kann das gern das Beziehungsprinzip nennen, schmunzelt | |
Christian, oder seinetwegen auch das Mafiaprinzip, und er lächelt beseelt | |
von dem Glück, auf seinem riskanten Weg so weit gekommen zu sein. | |
Hin und wieder allerdings wird ihm plötzlich schwindelig und gefriert sein | |
Lächeln. Irgendwo, sagt das tief in ihm lauernde ungute Gefühl, wartet auch | |
auf ihn eine Anklagebank. | |
19 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
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