# taz.de -- Flucht aus der Ukraine nach Ungarn: Bloß weg | |
> Derzeit kommen viele Ukrainer:innen im Nachbarland Ungarn an. Aus | |
> Sorge davor, dass sich der Krieg ausbreitet, haben sie ihre Heimat | |
> verlassen. | |
Bild: Flüchtlinge an der Grenze zu Moldawien, 26.02 | |
Beregsurány/Záhony taz | Der Dartautomat im „Grenzbistro“ am | |
ungarisch-ukrainischen Grenzort Beregsurány hat aufgehört zu blinken und | |
ist verstummt. Stattdessen laden jetzt mehrere Handys in der | |
Mehrfachsteckdose. Sie gehören den Männern jüngeren und mittleren Alters, | |
die hier im „Grenzbistro“ Unterschlupf gesucht haben und sich in dem | |
kleinen Holzanbau wärmen. Andere stehen draußen vor der Tür, auf dem | |
kleinen Parkplatz, unterhalten sich, trinken und rauchen. | |
Sie alle haben in den vergangenen Stunden [1][die ungarisch-ukrainische | |
Grenze passiert], aus Angst, in die ukrainische Armee eingezogen zu werden. | |
Tatsächlich wird es am nächsten Tag für die meisten Männer schon zu spät | |
sein. Am 25. Februar hat die Ukraine die Generalmobilmachung verkündet. | |
Männliche ukrainische Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren dürfen das | |
Land seitdem nicht mehr verlassen. | |
Trotz der Kälte sind viele zu Fuß gekommen, manche mit dem Fahrrad, aus den | |
grenznahen Dörfern. Sie wollten nicht riskieren, im Auto stundenlang an der | |
Grenze stehen zu müssen und es eventuell doch nicht mehr rüberzuschaffen. | |
[2][Die Warteschlangen auf der ukrainischen Grenze seien jetzt schon lang], | |
erklären sie. Nicht nur hier in Beregsurány, sondern auch an den | |
Grenzübergängen in Tiszabécs und Záhony. Die Männer wollen ihre Namen nicht | |
nennen aus Sorge, dass die ukrainischen Behörden sie identifizieren und | |
ihren Familien Zuhause Ärger drohen könnte. | |
Auch Jozsef* hat gerade vor einer Stunde die Grenze passiert. Der | |
20-jährige Informatikstudent stammt aus dem 40 Kilometer entfernten Munkács | |
(ukrainisch: Мукачево), ein Bekannter hat ihn schnell zum Grenzübergang | |
gefahren. Dabei hat er nur seine Dokumente, einen Laptop, ein paar T-Shirts | |
und Unterwäsche. Sein Vater, halb Ukrainer, halb Slowake, holt ihn gleich | |
ab. Bereits früh am Morgen war er zum Arbeiten über die Grenze nach Ungarn | |
gefahren. | |
## „Wir sind Kinder aller Nationen“ | |
„Wir in Transkarpatien sagen immer, dass wir die Kinder aller Nationen | |
sind“ sagt Jozsef. „Bei uns gibt es Ukrainer, Ungarn, Deutsche, unsere | |
Leute sind in der ganzen Welt unterwegs. Es kann nicht sein, dass so viele | |
Menschen nicht existieren sollen, wie Putin sagt.“ Man merkt Josef an, dass | |
er um Fassung ringt. „Wir haben uns einfach nicht vorstellen können, dass | |
sie die Ukraine angreifen. Ich kann das nicht begreifen.“ Er hoffe darauf, | |
dass die russische Bevölkerung versteht, wie verbrecherisch ihre Regierung | |
ist und etwas dagegen tut. | |
Wie Jozsef gehören die meisten der hier wartenden Männer der ungarischen | |
Minderheit in Transkarpatien an. Sie besitzen einen ungarischen und einen | |
ukrainischen Pass. Auch einige Ukrainer ohne ungarischen Pass sind dabei. | |
Wohin es jetzt weitergeht wissen viele noch nicht. Manche werden in den | |
nächsten Stunden von ungarischen Angehörigen und Freunden abgeholt. Andere | |
werden hier die Nacht auf ihre Familien warten, die am nächsten Tag die | |
Grenze überqueren. | |
Jozsefs ungarische Mutter ist in der Ukraine geblieben, sie wollte das Haus | |
der Familie nicht allein lassen. „Ich mache mir Sorgen um sie und habe ihr | |
gesagt, dass sie zu Freunden gehen soll, damit sie jetzt nicht allein ist“, | |
sagt er. „Es wäre gut, wenn ich schon morgen oder übermorgen zurückkönnte | |
und sich die Lage beruhigt.“ Falls er doch nicht zurückkehren kann, müssten | |
sie das Haus verkaufen und Jozsef sich eine Arbeit in Ungarn suchen. „Meine | |
drei Jahre Studium wäre umsonst gewesen. Aber das will ich mir nicht | |
vorstellen, das ist unsere Heimat, unser Haus, unsere Familie.“ | |
Plötzlich biegt ein Minibus auf den Parkplatz ein, eine mittelalte Frau im | |
blauer Daunenjacke kurbelt das Fenster runter. „Möchte jemand nach | |
Budapest? Ich habe noch zwei Plätze frei und nehme gerne jemanden mit.“ Als | |
ich etwas später mit meinen beiden ungarischen Kollegen am Straßenrand in | |
der Nähe des Grenzübergangs entlanglaufe, hält ein junger Ungar neben uns | |
an, und fragt, ob er uns mitnehmen soll, es sei schließlich unmenschlich, | |
was gerade in der Ukraine passiere. An mehreren Grenzorten haben kirchliche | |
Organisationen Zelte aufgeschlagen und verteilen Tee, Kekse und Sandwiches | |
an die Ankommenden. | |
## „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll“ | |
Der nächste Morgen in Záhony, 40 Kilometer weiter nördlich. Der Parkplatz | |
vor dem Bahnhof des Dorfs mit 600 Einwohnern ist ungewöhnlich voll. Am | |
Bahnhofsgebäude ist noch eine alte Plakette angebracht: Europaplatz, | |
datiert auf dem 15. September 2000. Die zwölf gelben EU-Sterne sind über | |
die Jahre etwas ausgebleicht. | |
Ich spreche eine Roma-Familie an, die vor den Stufen am Bahnhofseingang | |
steht: zwei Mütter, eine Großmutter und sechs kleine Töchter. Heute morgen | |
sind sie hier angekommen und warten auf ihre Männer, die schon in Ungarn | |
sind. „Bisher ist noch nichts passiert in unserem Dorf, aber wir haben | |
Angst vor dem Krieg. Wir haben unser Haus jetzt einfach verlassen“, erzählt | |
mir eine der Mütter. Ich frage sie, wie es jetzt für sie und ihre Familie | |
weitergeht. „Ich weiß es nicht.“ | |
Am Gleis wartet ein Dutzend Menschen auf den Zug aus Csap (ukrainisch: | |
Чоп), dem nächstgelegenen ukrainischen Dorf auf der anderen Seite der | |
Grenze. Normalerweise trennen nur der Theiss-Fluss und zwei Kilometer | |
Luftlinie die beiden Orte. Jetzt herrscht in dem Land auf der anderen Seite | |
Krieg. Viele hoffen hier, dass Transkarpatien vom Krieg verschont bleibt. | |
Militärstrategisch sei es zu bedeutungslos und zu nah an den EU- und | |
NATO-Ländern Ungarn, Slowakei und Rumänien. | |
„Wir glauben zwar nicht, dass es in Transkarpatien zum Krieg kommt, aber | |
ruhig bleibt niemand. Alle Männer, die konnten, sind gestern schon weg, und | |
jetzt kommen die anderen Familienmitglieder nach“ erklärt Lászlo, der hier | |
am Gleis auf seine Frau wartet, die gleich mit dem Zug ankommen soll. Der | |
44-jährige Programmierer war am Donnerstagmorgen einer der ersten, die | |
rübermachten. Eigentlich wollte er schon am Samstag wegfahren, dann habe er | |
doch noch abgewartet. Als am Donnerstagmorgen klar wurde, dass russische | |
Truppen die Ukraine auf breiter Front angreifen, brach er auf. | |
## „Es wird sehr viele Flüchtlinge geben“ | |
Die Fahrt zwischen den beiden Grenzbahnhöfen dauert laut Fahrplan regulär | |
17 Minuten, doch die Anzeigetafel meldet bereits 20 Minuten Verspätung. | |
Eine Frau erklärt den Wartenden, dass alle 18- bis 60-Jährigen auf der | |
anderen Seite nicht mehr in die Schalterhalle am Bahnhof in Csap | |
reingelassen werden. | |
Im Kulturhaus und in den öffentlichen Einrichtungen im ukrainischen Csap | |
bereite man sich bereits auf die Flüchtlinge vor, sagt László. „Es wird | |
furchtbar viele Flüchtlinge geben. Viele haben keinen Reisepass. Als erstes | |
werden die Ungarn kommen, weil es für sie einfacher ist, sie haben | |
ungarische Pässe.“ | |
Sein Vater, der schon über 60 Jahre alt ist, bleibt in der Ukraine und | |
hütet das Haus und die vielen Katzen. Plötzlich kommen dem kräftigen Mann | |
die Tränen, er schweigt einige Sekunden. Als er sich wieder sammelt, sagt | |
er: „Es waren schwere Tage. Wir mussten sehr schnell weg. Wir sind 2015 | |
schon einmal raus, und jetzt müssen wir wieder weg.“ | |
*Name von der Redaktion geändert. | |
26 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian-Zsolt Varga | |
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